Tagen des Innehaltens – ein persönlicher Erfahrungsbericht
von Gina Ahrend
„Tage des Innehaltens“ – Zeit haben, nach innen und außen zu hören, zu fühlen, die Welt um sich herum wirklich wahrzunehmen, sich selbst zu spüren, ist ein Wunsch vieler Menschen in unserer heutigen hektischen Zeit. Wir fühlen uns überfordert von der Fülle der anstehenden Termine, alles geht schneller, ist oberflächlicher, unverbindlicher, so hat man jedenfalls den Eindruck. Da kommen „Tage des Innehaltens“, zumal inmitten der Weinberge, im Schloss Rechenthal in Südtirol, gerade recht. Anselm Bilgri, Nikolaus Birkl und Georg Reider, die Referenten, bieten in den dreieinhalb Tagen eine stimmige Mischung aus Meditation, Impulsvorträgen*, Naturerlebnis, gutem Essen, ernsten Gesprächen und launigen Abendsymposien. Inspirierende, aufbauende Tage – da sind sich alle in der Schlussrunde einig. Jeder nimmt etwas mit, auch wenn es manchmal mehr Fragen als zu Beginn sind. Aber Fragen sind der Anfang aller Entwicklung.
Mein persönlicher Bericht:
Über den Brenner zu fahren hat für mich seit meiner frühesten Jugend, wenn meine Eltern mit mir im Liegewagen von Wuppertal aus gen Süden fuhren, einen ganz besonderen Zauber. Meist erfüllt von der Vorfreude auf Tage am Meer, auf Sonne und Pinien oder Palmen, je nach Richtung, auf pittoreske Plätze und kulturelle Schätze – kurz, auf mehr Leichtigkeit und Lebensfreude.
Aus dem sonnigen und warmen München kommend empfing uns das Land wo die Zitronen blühen heute allerdings mit prasselnden Regenschauern und gefühlten 12 Grad. Schloss Rechenthal liegt wunderschön, sagt man mir, mit weitem Blick über das Tal bis zum Kalterer See. Im Moment ist davon nicht viel zu sehen – aber morgen ist das bestimmt schon anders!
Heute um 19 Uhr beginnen unsere „Tage des Innehaltens“ mit einer offiziellen Vorstellungsrunde. Ich habe mit dem Innehalten schon mal begonnen – und schaue einfach blöd vor mich hin aus dem Fenster meines Zimmers hinaus ins Graugrün. Meine letzten Tage zuhause waren extrem stressig, und Innehalten kann mir gerade wirklich nicht schaden. Ich bin sehr gespannt und sehe der Gruppe und den Tagen mit Interesse und Freude entgegen. Que sera, sera? What ever will be, will be? …
Wir treffen uns zu Abendessen und Vorstellungsrunde im Kellergeschoss im Wintergarten und inspizieren schon mal den Meditationsraum, ein hohes, ansprechend weiß gestrichenes Kellergewölbe, wo uns Nikolaus Birkl erklärt, wie der kommende Morgen mit der nicht obligatorischen Geh- (Kinhin) und der obligatorischen Morgenmeditation ablaufen wird. Wir suchen uns unsere bevorzugten Sitzgelegenheiten aus, Hocker, Bänkchen oder Kissen. Danach warten schön arrangierte kalte Teller auf uns und der gemütliche Teil kann starten. Und nachdem alle ausreichend gesättigt sind, beginnt die Vorstellungsrunde: Neun Männer und zwei Frauen stellen sich kurz vor.
Die meisten sind von ihrer Arbeit, den täglichen Anforderungen, oder/und auch persönlichen Problemen stark unter Druck, fühlen sich ausgepowert, wollen auftanken, und haben sich daher für diese gemeinsamen Tage des Innehaltens entschieden. Die Mehrzahl sind Wiederholungstäter, kennen – und schätzen – sich von früheren Seminaren der Akademie der Muße. Die andere weibliche Teilnehmerin, außer mir, ist Onkologin und leitende Ärztin in einem Onko-Zentrum, die bei ihrer täglichen Arbeit viel Leid und menschliche Schicksale sieht. Sie war schon mehrmals bei den Tagen des Innehaltens und berichtet sehr eindrücklich, wie ihr diese Zeit immer Kraft schenkt, die Möglichkeit, wieder zu sich zu finden, die Impulse aufzugreifen und das Leben in all seiner Schönheit und Vielfalt zu genießen.
Die Stimmung ist rasch gelöst, eine vertraute Atmosphäre kommt auf – vielleicht auch ein klein wenig dem guten Rotwein geschuldet. Keiner wird bei diesem Seminar verdursten, das wird schnell klar. Nach diesem ersten Abend sind etwaige Bedenken rasch verflogen und die Vorfreude nimmt weiter Fahrt auf. Ich gehe froh ins Bett und stelle mir den Wecker schweren Herzens auf halb sieben, um pünktlich zur Meditation um sieben Uhr zu kommen. Die Geh-Meditation werde ich mir sparen, zumindest am ersten Morgen. Stille und Schweigen kommen mir am frühen Morgen allerdings sehr entgegen.
Wie Nikolaus uns angewiesen hat, kommen wir am Morgen schweigend, ohne uns anzuschauen, in den Meditationsraum, verneigen uns und gehen zu unseren Plätzen. Sobald ein Zeichen ertönt, nehmen wir unsere gewählte Haltung ein, lauschen einem kurzen Text und sitzen dann schweigend, sonst nichts … Ich bin am ersten Morgen überrascht, als der Klang der Schalen wieder ertönt und die 25 Minuten schon verstrichen sind. Wir verlassen immer noch schweigend den Raum, sind angehalten, uns erst beim Treffen im Frühstücksraum wieder freundlich anzuschauen und einen guten Morgen zu wünschen. Ich gehe ein paar Schritte in den Weinberg, genieße die Stille, den Ausblick, den frühen Morgen. Jetzt erst kann ich wahrnehmen, wo ich hier überhaupt gelandet bin. Heute regnet es immerhin nicht mehr, aber die Wolkenfelder hängen noch tief in den Bergen ringsum. Trotz des grauen Himmels ein beeindruckendes Panorama. Jetzt wartet ein schönes Frühstück, wir dürfen wieder sprechen, uns in die Augen schauen, einen guten Tag wünschen!
Am nächsten Morgen:
Gestern (Donnerstag) war ein sehr schöner Tag. Nach der Morgenmeditation schmeckte das Frühstück, und wir trafen uns um neun Uhr zu zwei Vorträgen, bei denen auch Gedanken eingebracht werden können: Zuerst sprach Nikolaus Birkl über „Systemisches Erkennen“. Jeder Mensch nimmt die Welt anders wahr, daher gibt es keine objektive Wahrheit. Aber, wenn es keine Wahrheit gibt, gibt es doch Unwahrheit! Im Anschluss ging es bei Anselm Bilgri darum, „Warum sind Werte wichtig?“. Bei so viel interessantem Input ging der Morgen vorbei wie im Flug. Interessante Impulse, viel Stoff zum Nachdenken, wichtige Anregungen gerade für die Führung kleiner und großer Teams.
Vor dem reichlichen Mittagessen ging es erst wieder in den Meditationsraum – dieses Mal kam mir die Zeit allerdings deutlich länger vor. Zu viel Grübelei und trübe Gedanken … Nach der Ruhepause versammelten wir uns im Schlosshof zu einem herrlichen Spaziergang. Ein kurzer Anstieg zu einem schönen Höhenweg und Georg Reider verteilte Aufgabenzettel an unsere Gruppe. Wir sollten während des schweigenden Gehens nach innen und nach außen spüren, wahrnehmen, entdecken. Die Sonne schien jetzt, der Waldboden duftete nach dem Regen, ich genoss das Gehen – allerdings nicht ganz so langsam wie angesagt und wartete am Schluss auf einer Holzliege am Wegrand auf den Rest der Gruppe, genoss die Sonne – eine kleine Eidechse huschte über meine Hand. Den Hinweg hatten wir alleine und schweigend verbracht, auf dem Rückweg bildeten sich Grüppchen, je nach Gusto. Ich lief mit Markus und Olli – wir diskutierten den Zustand der Welt – und kamen gerade noch pünktlich zur Abendmeditation. Macht Nikolaus es jedes Mal ein bisschen länger? Ich habe den Verdacht … Das Abendessen war reichlich, danach entspannte Runde im Wintergarten, der Rotwein floss, die Witze kamen gut an. Wir nahmen den Begriff Symposion (gemeinsames, geselliges Trinken) ernst!
Schon ist Freitag:
Der heutige Freitag lief am Morgen wieder gleich ab mit Morgenmeditation – Kinhin habe ich leider in den Tagen nicht einmal geschafft … – und interessanten Impulsvorträgen. Nikolaus erklärte weiter die Grundprinzipien systemischen Denkens und Handelns: „Das Denkprinzip ‚Soziales System‘“. Menschen bringen sich nicht als Ganzes in ein soziales System ein, sondern als jeweilige Person. Wer bin ich und wenn ja, wie viele – „Kommunikationssysteme erschaffen Personen.“ (Torsten Groth). Anselm Bilgri sprach im Anschluss über „Werte im Wandel“ – ein Thema, das im Moment in der Gesellschaft, in den Parteien und Medien heiß diskutiert wird.
Am Nachmittag brachte uns ein Bus zu den wunderschön angelegten Gärten von Schloss Trauttmansdorff, und es erwartete uns eine 90-minütige Führung durch diese grüne, blühende Vielfalt. Ich freute mich riesig auf diesen Nachmittag, da ich diese Anlage von einem Besuch im letzten Jahr bereits kenne und weiß, welche Schönheiten uns erwarten. Und wir hatten Glück mit dem Wetter: Es gab zwar dicke, schwarze Wolken, aber genau über uns schien die Sonne – wie es sich gehört. Wir genossen die herrlichen Blumen- und Pflanzenwelten, die uns der Führer Klaus anschaulich (auf seine etwas eigene Art und Weise) erklärte. Zum Abschluss stärkten wir uns mit einer flüssigen Erfrischung im Gartencafé am Teich kurz vor dem Ausgang, bevor wir zurück zum wartenden Bus liefen. Die Abendmeditation fiel aus, die kalten Teller schmeckten wunderbar. Große Erheiterung, teils schallendes Gelächter belohnte die Witze-Erzähler beim Wein. Morgen ist ein neuer Tag!
Am Samstag:
Heute Nacht habe ich zum ersten Mal besser geschlafen. Wahrscheinlich habe ich nicht mehr die unterbewusste Angst, den Wecker zu überhören und werde kurz vor dem Weckton um halb sieben von selber wach. Ein herrlicher Morgen – endlich strahlt die Sonne, und das direkt in mein Zimmer. Ich freue mich sehr auf den Tag. Die Meditation versuche ich mit Atemübungen für meinen niedrigen Blutdruck besser zu gestalten. Danach marschiere ich stracks die Straße hinter dem Schloss hinauf, um mal den Blick von oberhalb des Schlosses zu genießen und gleichzeitig bereits ein wenig herrliche, wärmende Sonne zu tanken.
Tage danach:
Diese letzten Zeilen schreibe ich schon wieder vom Büroschreibtisch aus, da keine Zeit mehr war, die Erlebnisse noch während der restlichen anderthalb Tage aufzuzeichnen.
Der letzte Vortrag von Nikolaus Birkl hatte die Überschrift „Entscheiden in sozialen Systemen“. Dahinter verbargen sich höchst spannende Gedanken zu ZDF (Zahlen – Daten – Fakten), die als hart und objektiv gelten (sind sie das wirklich?) und den unterschiedlichen Formen von Entscheidungsprämissen und deren mehr oder weniger schnellen Veränderbarkeit. Anselm Bilgri fragte „Werte in der Digitalisierung – Wo bleibt der Mensch“.
Nach einem guten Mittagessen und einer Ruhepause brachten uns zwei Kleinbusse zu einem wunderschönen Höhenweg, der erst lange relativ geradeaus durch den Wald führt und zum Schluss steil bergab zurück nach Schloss Rechenthal. Georg Reider war mit von der Partie als unser Führer. Ähnlich wie am Donnerstagnachmittag gab er uns wieder Aufgaben mit auf den Weg, schweigend die Eindrücke zu genießen und nach außen und innen zu spüren. Nach einer guten Stunde trafen wir uns bei einer Hütte auf einer Lichtung und bekamen die Anweisung, uns gut im umliegenden Wald zu verteilen, „unseren“ Baum zu suchen und uns u. a. mit der Frage zu beschäftigen, was uns jeweils Standfestigkeit gibt und wo wir Halt finden. Nach etwa zwanzig Minuten fanden wir uns wieder bei der Hütte ein und Georg überraschte uns mit Brot und Wein. Wir verweilten in einer trauten Runde, bevor wir uns auf den Rückweg machten, wieder uns verbal austauschend, in kleinen Grüppchen oder einzeln, je nach Lust und Verfassung.
Der Abschlussabend versprach ein kulinarisches Highlight – Teilnehmer, die schon öfter dabei waren, wussten, was uns erwartete. Ein festlich gedeckter Tisch im nahegelegenen Plattenhof. Das viele Besteck und die Gläser verrieten im Vorfeld, dass es üppig zur Sache gehen würde. Nach Spargel, köstlicher Suppe und Hauptgang schaffte ich bedauerlicherweise den toll aussehenden, bunt arrangierten Nachtischteller nicht mehr. Ein paar von uns überlegten noch zu Fuß zu gehen, um das wunderbare Essen zu verarbeiten, aber dann nahmen wir doch alle den Kleinbus, der uns sicher durch die Nacht fahren und die Lichter im Tal genießen lassen würde.
Der Sonntagmorgen begann mit der nun vertrauten Meditationsrunde – schade, dass es die letzte ist. Zwei Plätze blieben leer, denn die beiden waren bereits auf der Autobahn, da sie gleich wieder Termine hatten. Nach dem Frühstück versammelten wir uns ein letztes Mal im Meditationsraum – jetzt allerdings im Halbkreis auf Stühlen vor unseren drei Referenten. Es wurden besinnliche Texte gelesen und in einer abschließenden Feedbackrunde äußerte sich jeder, was ihm die gemeinsamen Tage gebracht und bedeutet haben. Die Meinung ist einhellig – es war spannend und erholsam, eine prima Gruppe und einfühlsame, inspirierende Referenten, ein stimmiges Programm. Es hat einfach rundum gepasst – und die meisten wollen wiederkommen. Ich wäre auch jederzeit gerne wieder dabei. Man verabschiedet sich ein wenig wehmütig, aber erfüllt von den Erlebnissen, die Taschen sind gepackt, die Autos stehen bereit.
* Ausführliche Unterlagen erhält jeder Teilnehmer, um den gehörten Stoff für sich wiederholen zu können