Tage des Innehaltens vom 08.05. – 12.05.2019

Ein Erfahrungsbericht von Philipp Hauner, Journalist

„Retreat für Führungskräfte“ – die Unterzeile zu den „Tagen des Innehaltens“ stimmt mich nachdenklich: Ist das was für mich? Passe ich in dieses Setting? Oder werde ich mich eher in die Rolle des distanzierten, neutralen Beobachters begeben? Ich bin schließlich keine Führungskraft, sondern Journalist. Und in dieser Funktion wurde ich auch von Nikolaus Birkl zum Retreat eingeladen.

Nikolaus und ich wir hatten uns kennengelernt, als ich ihn für ein Porträt im Münchner Merkur interviewte – und waren uns auf Anhieb sympathisch. Jetzt soll ich die Tage des Innehaltens begleiten und später redaktionell aufbereiten. Sicher, ich habe im Soziologie-Studium schon mal von der Systemtheorie gehört und bin auch schon mit Zen-Meditation in Berührung gekommen. Beide werden wichtige Elemente des Gesamtprogramms der Tage des Innehaltens sein. Aber die Frage bleibt: Werde ich mich unter all den Managern wie ein Fremdkörper fühlen?

Szenenwechsel: Ich sitze mit Nikolaus und Gina Ahrend in einer Raststätte am Brenner, wir bestellen. Kaffee und Tee, während draußen Nikolaus’ Tesla am Supercharger Strom tankt. Noch zirka 20 Minuten – dann geht es weiter Richtung Südtirol. Die neue Form der Mobilität – zwingt sie uns, wenn auch natürlich ungewollt, zum langsamer werden? In Zeiten der Effizienzsteigerung und Beschleunigung wirkt zumindest der E-Ladevorgang wie ein Anachronismus. Von vielen belächelt oder kritisiert, passt er doch irgendwie wunderbar zu einem Seminar des Innehaltens, denke ich. Wenngleich ich zugeben muss, dass ich es beeindruckend finde, wie schnell das E-Auto von 0 auf 100 kommt – da fühlt man sich fast wie in einem Flieger auf der Startbahn…

Die Autogespräche kreisen dann um die spanische Esskultur, Umweltschutz, das Wiener Wohnmodell – und ehe man sich’s versieht, durchfahren wir schon den sonnengelben Torbogen von Schloss Rechtenthal und biegen in den Innenhof ein. „Der Zielort wurde erreicht“ – Tramin in Südtirol. Wir beziehen unsere Zimmer und treffen uns mit Anselm Bilgri im fensterlosen Souterrain, das mit seinem weißen Gewölbe an die stille Atmosphäre einer Kapelle erinnert. Hier unten werden wir die nächsten Tage gemeinsam meditieren, jetzt richten wir die quadratischen Sitzmatten für alle Teilnehmer aus. Und ich falte mir eine Decke auf meiner Matte so hoch zusammen, dass ich im Kniesitz darauf Platz nehmen kann – meine bewährte Haltung während der Meditation.

Im angrenzenden Wintergarten (ja das geht, denn das Schloss steht mitten in einem steilen Weinberg!) versammeln sich immer mehr Teilnehmer – bis die Vorstellungsrunde beginnen kann. Wir sind ein kleiner Kreis aus sechs Männern und einer Frau (danke Gina, dass du bisschen Diversity in die Gruppe gebracht hast!). Es wird deutlich, dass viele Teilnehmer Führungspositionen im klassischen Mittelstand innehaben und auch zum wiederholten Male hier sind – einige sogar schon zum fünften oder sechsten Mal. Und noch eins wird mir recht schnell klar: Das hier ist keine zugeknöpfte Anzugträger-Truppe, hier geht es legère und vertrauensvoll zu – die ersten Lacher sorgen bereits für lockere, heitere Stimmung. Meine Sorge, mitten unter vielleicht unnahbare Dax-Vorstände zu geraten, war also völlig unbegründet. Und so beschließe ich mich für die kommenden drei Tage zu öffnen und nicht die Rolle des distanzierten Beobachters einzunehmen.

Es geht weiter mit der ersten gemeinsamen Meditation im japanischen Zen-Stil. Nikolaus, der eingangs darauf hingewiesen hat, dass sich alle Meditierenden weltweit duzen, erklärt die wichtigsten Grundprinzipien: versuchen still zu sitzen, Fokus auf den eigenen Atem, Augen ganz leicht offen, Blickrichtung zur Wand – und, sehr wichtig, entspannt bleiben, auch wenn sich vielleicht mal unangenehme Gedanken aufdrängen. Im Gegensatz zu tibetischen Formen der Meditation ist das japanische Pendant schlicht und puristisch – es kommt ohne aufwändige Visualisationen aus. Und außerdem: Was soll dabei schon schiefgehen, wenn im Kreis der Übenden ein langgedienter Mönch dabei ist? Anselm Bilgri war 20 Jahre lang Cellerar im Kloster Andechs, bis er 2004 ausgeschieden ist und sich aufs Bücher schreiben und Vorträge halten konzentriert hat.

Innere Gelassenheit, mehr Resilienz-Vermögen und sogar ein stärkeres Immunsystem: Dass regelmäßige Meditation viele Vorteile bringt, ist längst wissenschaftlicher Konsens – nun geht es darum, selbst die Früchte des stillen Sitzens zu ernten. Ein oft verwendetes Bild vergleicht die Wirkung von Meditation mit dem stehen gelassenen Glas voll schmutzigen Wassers: Wie mit der Zeit die Schmutzpartikel zu Boden sinken und das Wasser immer klarer wird, kommt auch während der Meditation ein aufgewühlter Geist zur Ruhe – Resultat: man sieht wieder klar. Die erste Meditation in diesem Seminar fällt mir nicht schwer: Ich genieße die Ruhe und spüre wieder einmal, wie viel Power das gemeinsame Sitzen hat. Auch wenn man still und beim ZEN mit Gesicht zur Wand sitzt, kann ich die Anwesenheit der anderen Teilnehmer wahrnehmen – und das gibt Kraft, vor allem beim Einstieg ins meditieren.

Den Abend lassen wir in geselliger Runde mit Wein und Schüttelbrot ausklingen. Ein köstliches Vitello Tonnato und Melone mit Parma-Schinken erinnern mich wieder daran, dass wir in Italien sind – eine Tatsache, die man angesichts des zumeist deutschsprachigen (und sehr freundlichen) Personals in Schloss Rechtenthal leicht vergessen könnte. Und schließlich: Tramin ist einer der letzten Vorposten im deutschsprachigen Teil Südtirols – hier kommt alpines Lebensgefühl mit Dolce Vita in Kontakt, wie ich in den nächsten Tagen oft genug feststellen werde.

Der folgende Morgen, sieben Uhr: Auf dem Meditationskissen sind meine Glieder schwer, ich habe große Mühe, nicht wieder einzuschlafen. Aber gut, auch das gehört dazu, sage ich mir und irgendwann kann ich die Ruhe genießen, auch ohne in richtig tiefes Gewahrsein zu kommen. Hin und wieder hatte ich bei vorangehenden Retreats schon Momente voller Energie und Gegenwärtigkeit erlebt, in denen ich mich auch nach dem Klingen der Glocke kaum von der Matte lösen wollte. Jetzt erklingt sie nach einer halben Stunde und ich freue mich auf das Frühstück. Heute und in den kommenden zwei Tagen ist das Tagesprogramm wie folgt strukturiert: Morgens eine halbe Stunde Meditation, danach Schweigen bis zum Frühstück um acht Uhr – anschließend zwei Impulsvorträge von Nikolaus und Anselm, danach nochmal Sitzen. An das Lunch schließt ein abwechslungsreiches Nachmittagsprogramm an, bevor es Abendessen gibt.

Heute geht’s im Anschluss an Lunch und eine kleine Siesta nach Partschins, wo ein beeindruckender Wasserfall fast hundert Meter in die Tiefe donnert. Ich atme die frische, ionisierte Luft ein und wandere mit zwei Teilnehmern ein Stück an den entspringenden Bächen entlang Richtung Ort Partschins. Durst? Was spricht gegen einen Schluck reinstes Alpenwasser? Ich tauche meinen Kopf in eine Gumpe und trinke.

Eine gute Entscheidung, denn unten im Dorf angekommen – läuft mir gleich wieder das Wasser im Mund zusammen. Wir bekommen eine Führung durch eine kleine Privatbrennerei – Christine Schönweger betreibt in einer umgebauten Waschküche die Hofbrennerei Gaudenz. In einem holzbefeuerten Kupferkessel stellt sie feinen Apfelbrand Golden Delicious, Grappa Vernatsch oder auch Marillenschnaps her, und verwendet dafür nur sonnengereifte, ausgesuchte Südtiroler Früchte – sowie: bestes Wasser aus den Gebirgsquellen von Partschins. Schließlich dürfen wir Schönwegers Schnapschatz auch verköstigen mit vielen Ahs und Ohs! Und verstehen, bzw. erschmecken, wieso die einzige Schnapsbrennerin Norditaliens preisgekrönt ist.

Mit der gleichen herzlichen Freundlichkeit empfängt uns tags drauf Martin Kiem zum Waldbaden. Wie Schönweger ist auch Kiem erst nach einem Umweg zu seinem heutigen Beruf (oder vielleicht zu seiner Berufung?) gekommen. Während Christine Schönweger zunächst ein Modestudium in Mailand absolviert hatte, sich dann in einen Südtiroler Bauern verliebt und prompt das Brennen angefangen hat, war Martin Kiem in seinem ersten Berufsleben als Coach für große Unternehmen in Sydney tätig. Auch er ist jetzt wieder in seine Südtiroler Heimat zurückgekehrt und bringt nun als ausgebildeter Natur-Therapie-Guide Gruppen das in Europa relativ neue Waldbaden näher. In seinem Metier gilt Kiem als einer der renommiertesten Experten in ganz Europa.

Bevor wir tief mit allen Sinnen in den Wald eintauchen, erläutert Martin Kiem worauf es beim Waldbaden ankommt. Ich merke mir: 1. Langsam! 2. Der Weg ist das Ziel! und 3. Beobachten und fühlen statt denken, denn „Denken frisst die Wahrnehmung“. Schön, dass diese drei Merkmale des Waldbadens sich schon mal gegenseitig unterstützen – wobei: Wer langsam geht, hat eigentlich noch mehr Zeit, um nachzudenken? Na, ich werde es gleich sehen. Wir sind im Wald angekommen, atmen die würzige, frische Waldluft ein und starten mit der ersten Übung. Martin möchte, dass wir zu 100 Prozent im gegenwärtigen Moment ankommen. Wir schließen die Augen und nehmen wahr: Was können wir spüren, riechen, fühlen? Ich kann mich komplett auf diesen Moment einlassen, spüre einen kühlen Windhauch an der Nasenspitze, höre Vögel zwitschern, etwas raschelt im Laub – und fühle mich nach dieser Übung wunderbar entspannt – und lebendig.

Wir sammeln die Eindrücke, ein Teilnehmer konnte sogar sechs verschiedene Vogelstimmen identifizieren, ein anderer nahm ganz intensiv den Waldboden wahr. Im Übrigen, so Martin, sei eine Abwandlung dieser Übung, die 5-4-3-2-1-Methode, auch ein perfekter Anker um wieder im Jetzt anzukommen: 5 Dinge, die man sehen kann, 4 Dinge, die man hört, 3 Dinge die man fühlt, 2 Dinge, die man riecht und 1 Ding, das man schmeckt – wer all das benennen kann, wird wieder in die Gegenwart geführt. Anschließend sollen wir den Wald so erkunden, als wäre er völlig neues Terrain für uns, als wären wir von einem entfernten Planeten gerade erst auf der Erde gelandet. Was können wir beobachten? Behutsam und fast in Zeitlupe strömen wir in alle Richtungen aus. Ich entdecke wundervoll gemusterte Blätter, die auf der Rückseite violett leuchten, andere Teilnehmer erfühlen, dass unterschiedliche Baumrinden ein ganz leicht verschiedenes Temperaturlevel haben – und einer bemerkt sogar voller Begeisterung: „Bäume haben ja Füße!“

Den Tag im Wald beschließen wir mit einer Fichtennadeltee-Zeremonie, die herrlich nach Sauna-Aufguss duftet. Ich habe schon viele Waldspaziergänge unternommen, aber so intensiv wie an diesem Tag habe ich den Wald noch nie wahrgenommen: und wie wunderbar diese Kathedrale der Natur ist! Am nächsten Tag vertiefen wir die Praxis des Waldbadens, jeder meditiert für sich an seinem ausgesuchten Lieblingsplatz – ich setze mich an den Fuß einer mächtigen Tanne – bis nach drei, vier Minuten ein Zapfen herunterfällt, dann ein nächster – ein Eichhörnchen macht sich da wohl im Baumwipfel zu schaffen…Wir schwärmen für die letzte Übung wieder aus: Jeder sucht einen Gegenstand, der ihn irgendwie berührt, sei es ein besonderer Stein oder Ast, eine Feder ein Blatt. Dann tragen wir unsere Fundstücke zusammen und kreieren ein Wald-Mandala – indem einer nach dem anderen seinen Gegenstand auf dem Waldboden drapiert. Mein spontaner Gedanke: Reichtum entsteht dann, wenn man genau hinsieht – und wenn man sich auf Gegenseitigkeit einlässt.

Im Rückblick waren die drei Tage in Südtirol so voll mit wertvollem Input – und wirkten doch alles andere als vollgepackt. Wie Nikolaus und Anselm dieses Kunststück gelungen ist? Ich denke es lag teilweise an dem gelungenen Rhythmus aus Meditation, sehr spannenden Impuls-Vorträgen über Systemtheorie und z.B. Freud und Heidegger, den nachmittäglichen Aktivitäten – und dem geselligen Austausch am Abend.

Ich war schon bei einigen Seminaren, aber diese Ausgewogenheit habe ich selten erlebt: viel Tiefgang aber auch viel Humor, viel Neues aber auch ausreichend Zeit für die Verarbeitung.

Meine anfängliche Befürchtung, in ein staubtrockenes Management-Seminar hineinzugeraten, hat sich schnell in Luft aufgelöst – hinter meiner Rolle als Journalist habe ich mich nicht verstecken müssen. Was ich mitnehme? Zum einen die Erkenntnis, dass Achtsamkeit durchaus mit Genuss konform gehen kann (ich erinnere mich an die Spargelcreme-Suppe mit Gewürztraminer im Plattenhof am letzten Abend) – und nicht zwangsläufig Askese bedeuten muss. Dass Langsamkeit gegen Betriebsblindheit hilft. Und dass Führen nicht eine Anleitung zum richtigen Handeln bedeutet, sondern viel mehr viele (und die richtigen) Fragen stellen heißt. Dass Veränderung und nicht Gleichbleiben die Regel ist – zwei von vielen Aha-Momenten, die mir die Nikolaus’ Erläuterungen aus der Systemtheorie bescherten.

Wir alle sind während dieser Tage vom Gaspedal heruntergetreten – umso erstaunlicher, wie schnell die Zeit in Rechtenthal verflogen ist. Hier waren alle einhellig der gleichen Meinung: Schade, dass es so fix wieder rum ist! Jetzt ist es an jedem einzelnen selbst, die gewonnen Einsichten und Praktiken behutsam in den eigenen Alltag zu überführen. Und wer weiß, was wir uns dann hoffentlich im nächsten Jahr alles zu berichten haben…