Interview mit Dr. des. Nassima Sahraoui zum Thema „Neugier“
von Gina Ahrend
Als Wissenschaftlerin ist „Neugier“ sicher für Sie eine Eigenschaft, die Sie auszeichnet?
Neugier ist sicherlich eine vorteilhafte Eigenschaft für jeden Wissenschaftler. Ein gewisses Maß an Neugierde ist vielleicht sogar notwendig, um die Suche nach einem Zugewinn an Wissen anzustoßen. Schließlich steht die Neugier symbolisch für Wissbegierde, also dafür, dass man den Horizont erweitern und den inneren Ursachen der Dinge auf den Grund gehen möchte, um so mehr über die Welt und das, was in ihr vorgeht, in Erfahrung zu bringen. Wissenschaftliche Neugier kann also ein Antriebsmotor dafür sein, die eigene Forschung voranzutreiben. Die Neugier schöpft aus diesem Streben nach mehr Wissen ihren Wert und erhält dadurch ihren tugendhaften Charakter. Es handelt sich hierbei gewissermaßen um ihre positive Seite. Allerdings ist dieses neugierige Streben zunächst einmal nicht kanalisiert, d. h. also unsortiert und ungeordnet. Der Neugier muss daher an einem bestimmten Punkt Einhalt geboten werden. Nur so kann mit der nötigen Gelassenheit und mit Scharfsinn dem eigentlichen wissenschaftlichen Arbeiten nachgegangen werden, und dieses wiederum erfordert weniger einen ungestümen und ungehemmten Wissensdrang als vielmehr eine beständige Fokussierung auf die Sache selbst. Die Neugier ist also ein ambivalenter Begriff und sollte noch einmal genauer differenziert werden, schließlich steckt im Begriff Neu-Gier auch die Gier und diese wiederum hat bekanntlich einen schlechten Ruf.
Im klassischen westlichen Kanon der Philosophie wird der Ursprung jener Suche nach mehr Wissen eher im Staunen bzw. Taumeln (dem thaumazein) verortet. Dass sich dieses Staunen nicht zwangsläufig in einem neugierigen Hinterfragen der Sachen erschöpft, wurde bereits von Martin Heidegger festgestellt.
„Gier auf Neues“ – darin steckt auch das Wort „Gier“, das negativ behaftet ist. Dann schlägt Neugier um in Sensationslust. Sehen Sie das auch so? Ab wann ist Neugier kritisch?
Wie eben schon angedeutet, ist Neugier ein ambivalenter Begriff. So wie auch die wissenschaftliche Neugier in ungehemmter Form nicht zu idealen Ergebnissen führt, so hat auch übermäßige soziale Neugier ihre negative Seite. Diese kommt immer dort zum Vorschein, wo Menschen dazu neigen, zu viel über andere wissen zu wollen. Anstelle von echtem Interesse stehen hier oftmals egoistische Interessen im Vordergrund. Besonders neugierige Menschen sind einerseits vielleicht frustriert mit dem eigenen Leben oder mit Entscheidungen, die sie getroffen haben und meinen doch andererseits, sich in einer erhabenen Position zu befinden, die es ihnen scheinbar ermöglicht, das Verhalten und Handeln des anderen bewerten und beurteilen zu können. Und das in der Regel leider ohne zu beachten, dass dies gegebenenfalls von der neugierig beäugten Person als Eingriff in die eigene Lebenswelt betrachtet wird, ohne also auf die für ein gemeinschaftliches Zusammenleben notwendige Wahrung der Privatsphäre und der Entscheidungsfreiheit zu achten. Diese Schaulust kann schnell zu einer Form der sozialen Überwachung führen, die leider aber eigenen Bewertungskriterien anstelle allgemeingültiger Gebote der Höflichkeit und Distanzwahrung folgt. Wenn dann auch noch das, was man so meint beobachtet zu haben, an die Öffentlichkeit getragen wird, dann sind wir schnell bei Spekulationen und manchmal sogar bei übler Nachrede und im schlimmsten Fall bei Stalking oder Mobbing. Dies kann schlimme Folgen für die betroffenen Personen haben. Es gibt aber einen Unterschied zwischen Glauben, Meinen und Wissen – gerade im Falle der Neugier ist es sehr wichtig diese Unterscheidungskriterien anzulegen.
In unserer heutigen Welt, die immer mehr auf Transparenz ausgelegt ist – von der Architektur bis hin zu den sozialen Medien – spielt die Neugier in Form der Schaulust eine unglaublich große Rolle. Daher ist es umso wichtiger, den Begriff der Neugier im Kontext der gegenwärtigen Kulturpraktiken und der Dynamiken des ökonomischen Systems zu lesen.
In Bewerbungen bezeichnen sich viele gerne als „neugierig“ und „ungeduldig“ – sind das also in heutiger Zeit gefragte Eigenschaften? Wenn ja, warum aus Ihrer Sicht?
In Bewerbungsprozessen wird die Neugier sicherlich eher als Tugend denn als Laster verstanden. Dies liegt vor allem darin begründet, dass man hier von den eben erwähnten positiven Seiten der Neugier ausgeht, also jemand ist neugierig auf sein Arbeitsumfeld, möchte sich informieren und schnell zu erweiterten Kenntnissen auf dem Fachgebiet – und vielleicht auch darüber hinaus – kommen. Auch an dieser Stelle könnte man noch einmal kritisch nachfragen, ob die Zuschreibung von solchen Adjektiven wie „neugierig“ und „ungeduldig“ in Lebensläufen nicht bereits Teil der Paradoxien unserer heutigen Gesellschaft ist. Stellen Sie sich einmal vor, dort würde stattdessen „großzügig“ und „geduldig“ oder „an einer Sache innehalten“ oder gar „müßiggängerisch“ stehen – dies entspräche schlichtweg nicht den ökonomischen Codes.
Was wäre der Kontrapunkt zu Neugier? Ängstlich verharrend?
Der Kontrapunkt der Neugier steckt bereits in dem Begriff selbst, in seiner Ambivalenz: auf der einen Seite kann wissenschaftliche Neugier wissensfördernd sein, auf der anderen stört die Neugier bei der Suche nach wahren Erkenntnissen. Ähnliches ist es bei der sozialen Neugier, bei der soziales Interesse einerseits durchaus das gemeinsame Zusammenleben bereichern, es aber andererseits auch immens beeinträchtigen kann. Dem doppelten oder dialektischen Sinn der Neugier entsprechend, hat sie vielleicht zwei oder mehr äußere Kontrapunkte: das Innehalten, von dem im Kontext der philosophischen bzw. wissenschaftlichen Betätigung bereits die Rede war, sowie die Diskretion in sozialen Kontexten.
Das Antonym zu der in der Neugier steckenden Gier ist bezeichnenderweise übrigens Großzügigkeit. Ich denke, das sagt schon viel über die Funktionsweisen der Neugier und könnte ein möglicher Ansatzpunkt für eine Kritik an diesem Begriff und seinen Praktiken sein.