Interview mit Alois Glück zum Thema „Selbstverantwortung“

von Gina Ahrend

Was halten Sie von dem Spruch „Jeder ist seines Glückes Schmied“?

Dieser gängige Spruch ist mir zu oberflächlich. Richtig ist, dass wir nur mit eigener Anstrengung unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten entwickeln können. Und so unseren Platz im Leben und danach Zufriedenheit erreichen. Falsch ist aber die Suggestion, dass es nur an uns selbst liegt, ob wir „glücklich“ sind oder werden. Das fördert eine falsche Ich-Fixierung und wird rasch zynisch gegenüber Menschen, deren Kräfte begrenzt sind oder die der Hilfe bedürfen.

Einseitige Leistungsorientierung und einseitige Anspruchshaltung sind gleichermaßen falsch und schädlich. Für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Unsere heutige Art zu leben ist nicht zukunftsfähig!

Das Projekt „Solidarische Leistungsgesellschaft“ ist die Alternative zur Ellenbogengesellschaft und einer Lebensweise, die nur von Erwartungen und Ansprüchen gegenüber anderen Menschen, der Gesellschaft, dem Staat oder der Politik geprägt ist. Die christliche Soziallehre entfaltet ihr christliches Menschenbild im konkreten Leben. Zum Respekt vor der Würde des Menschen und dem Anspruch auf Selbstbestimmung gehört der Vorrang der Eigenverantwortung vor dem Anspruch auf Solidarität und Hilfe. Das ist auch eine der zentralen Fragestellungen bei Projekten wie bedingungsloses Grundeinkommen. Unsere gegenwärtige Situation wird sehr stark von zwei Extremen beherrscht: einseitige Orientierung auf die Leistung und die Mechanismen des Marktes einerseits. Und als Gegenpol eine immer mehr verbreitete Anspruchshaltung, Konsumenten-Mentalität gegenüber „der Gesellschaft“ und dem Staat. Nach unserem Menschenbild sind Eigenverantwortung und damit die Anstrengung des Einzelnen das Leitbild der „Sozialen Marktwirtschaft“. Das bedeutet eine geradezu geniale Verbindung von den Stärken des Wettbewerbs und des Marktes und dem gleichrangigen Maßstab des sozialen Ausgleichs und der Solidarität. Ein Kernelement ist dabei die Chancengerechtigkeit. (Zur Lebenswirklichkeit gehört auch die Unterscheidung zwischen Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit!). Der in der internationalen Wirtschaftsentwicklung, im Prozess der Globalisierung, vorherrschende Vorrang der Kapitalrendite führt zu den schweren Verwerfungen in den Gesellschaften und zwischen den Völkern und ist eine der starken Quellen für die zunehmenden Unruhen in der Welt. Die Alternative dazu ist das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft.

Zu den größten moralischen Defiziten unserer Zeit gehören die mangelnde Zukunftsorientierung und Zukunftsverantwortung gegenüber den nachkommenden Generationen und fehlende Solidarität gegenüber den Menschen in anderen Regionen in dieser Welt, unserem „gemeinsamen Haus“ (Papst Franziskus Laudato Si‘).

Selbstverantwortung leben ist ein Lern- und Entwicklungsprozess, der mit der Erziehung beginnt. Verwöhnte Kinder werden unfähig zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung und zum sozialen Verhalten. Ein zentrales Ziel von Erziehung und Bildung muss die Förderung selbstständiger und starker Persönlichkeiten sein.

Meine Kindheit (geb. 1940) und Jugendzeit ist geprägt von den Bedingungen der Nachkriegszeit. Das war keine Welt der Rundumversorgung. Weil mein Vater im Krieg gefallen ist, musste ich schon mit 17 Jahren die Leitung unseres landwirtschaftlichen Betriebes übernehmen. Für alle Kinder war es mehr oder minder selbstverständlich, in der jeweiligen Familiensituation bei den Aufgaben des Alltags mitzuhelfen. Insofern ist die heutige Welt des Perfektionismus und der Angebote eine viel schwierigere Ausgangssituation. Zu den fatalen Fehlentwicklungen in der Bildungspolitik zählt, dass als Reaktion auf die Vergleichsteste von Schulergebnissen immer mehr das testfähige Wissen dominiert und somit Persönlichkeitsbildung, Bereiche wie Sozialkultur, kulturelles Verständnis, immer mehr in den Hintergrund rücken.

Kleine Gemeinschaften bis zu großen internationalen Organisationen, wie Verbände oder Parteien, sollten nur von Menschen geprägt werden, deren starke innere Überzeugung die Basis für ihre Entscheidungen bildet. In Verbindung mit der notwendigen Sachkompetenz und einer sachorientierten Haltung sind solche Menschen glaubwürdig. Das ist Voraussetzung für die Akzeptanz, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Um einen solchen Kurs durchzuhalten, braucht man innere Stärke und einen langen Atem. Das habe ich in den unpopulären Zeiten der Umweltpolitik intensiv erlebt. Alle Entwicklungen, die wir heute als positiven Fortschritt einordnen, etwa die Gleichberechtigung der Frau, Partnerschaft als Leitbild für Ehe und Familie, die Weiterentwicklung unserer Demokratie, der Natur- und Umweltschutz, die Entwicklungspolitik, neue humane Aufbrüche wie die Behindertenhilfe oder die Hospizbewegung, haben mit Pionieren, Frauen und Männern, begonnen, die zunächst Außenseiter waren, die den Mut und die Kraft hatten, für ihre Überzeugung zu kämpfen und zu leiden. Starke Persönlichkeiten, und Pioniere zumal, sind oft anstrengend, aber wir brauchen sie immer wieder!

Die Kraft zu einer positiven Lebenshaltung auch in schweren Zeiten ist ein individueller Prozess, für den es kein Rezept gibt.

Es braucht wohl in aller Regel eine längere Wegstrecke, um zu einer solchen Einstellung zu kommen. Für mich persönlich war es ein schmerzlicher Weg durch viele Täler, bis ich allmählich lernte, dass unser schwerbehinderter Sohn zu einer großen Bereicherung für mein Leben, für unsere partnerschaftliche Beziehung und für meine Weltsicht wurde. Kaum ein anderer Mensch hat mich so geprägt, wie die Erfahrungen, die wir mit unserem Sohn machen durften. Ein Freund formulierte einmal: „Thomas hat in der bayerischen Politik viel bewirkt.“ Ich war zunächst verblüfft und überrascht. Im weiteren Nachdenken konnte ich dies nur bestätigen.

Wir können Kraft schöpfen aus der Beobachtung von Menschen, die ihre Schicksalsschläge in bewundernswerter Weise meistern. Sensibel hinschauen, um vielleicht doch zu entdecken, was uns so viel Kraft gibt. Für viele ist es sicher der christliche Glaube, der treue Gott als Wegbegleiter, der Sohn Gottes, der selbst alle Leiden und tiefen Abgründe menschlichen Lebens erfahren hat, der uns nie verlässt, auch wenn wir schwere Fehler machen. Glaube schützt freilich auch nicht vor einer falschen Opferhaltung.

Wir befinden uns in einem weltweiten epochalen Umbruch, der auch mit einem weltweiten Wettbewerb der Werteordnungen, der Gesellschaftsordnungen, der politischen Systeme verbunden ist. Wenn uns die Werte der von Christentum und Humanismus geprägten europäischen Entwicklung weiter wichtig sind, werden wir für viele Aufgaben die europäische Wertegemeinschaft neu beleben müssen.

Europa war über Jahrhunderte gewissermaßen der „Nabel der Welt“. Diese Zeit ist vorbei. Der Traum nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, von einem Siegeszug der Demokratie und der westlichen Werte ist ausgeträumt. Im Prozess der Globalisierung waren wir bislang vor allem bei den Nutznießern der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Als Exportnation haben wir damit unseren Wohlstand aufgebaut. Das ist unser bisheriger Blick auf die Welt. Diese Welt wird mehr und mehr zu einer weltweiten Schicksalsgemeinschaft. Die große Zahl von Flüchtlingen und Migranten ist dafür exemplarisch. Wenn wir daraus in Europa keine politischen Konsequenzen ziehen, werden wir in absehbarer Zeit das Geschehen in der Welt nicht mehr mitgestalten, sondern von anderen Kräftefeldern abhängig sein.