Bühne frei für Sinnfragen

Innehalten: Wie geht das eigentlich?

Dann sitze ich auf meinem Schemel und schweige. Sonst nichts. Als wenn das so einfach wäre! Nicht das Schweigen, sondern das Nichts. Ich sitze in dem wunderbaren Saal des Renaissance-Schlosses Goldrain im Vinschgau mit der kostbar geschnitzten Holzdecke und durch meinen Kopf zieht Gedanke um Gedanke – von wegen Nichts: mein Alltag in München, in dem ich gestern noch steckte, mein Job, das ein oder andere ungelöste Problem. Ich bin unruhig. Es gäbe so vieles zu erledigen im Büro, und ich soll hier sitzen und mich in Meditation versenken? Mist.

Die Konzentration aufs Atmen hilft: tief ein, tief aus, das Zwerchfell spüren, die beteiligten Muskeln, wie sitze ich eigentlich? Der Rücken ist verspannt, von der Schulter zieht es irgendwie in den linken Arm hinunter, seit Wochen schon, mein Nacken ist eine ewige Baustelle. Ich habe die Augen geschlossen, aber höre neben mir die Schauspielerin atmen. Außerdem im Raum: eine Onkologin aus der Schweiz, ein Projektleiter bei einem Bauunternehmen, eine Unternehmerin aus Hamburg sowie die drei Referenten: die Gründer der Akademie der Muße: der ehemalige Prior von Kloster Andechs und jetzige Unternehmensberater Anselm Bilgri, der Anwalt und Systemtheoretiker Dr. Nikolaus Birkl und der frühere Provinzial der Südtiroler Franziskaner Dr. Georg Reider.

Es ist gar nicht so einfach, jemandem zu erklären, was das ist: Innehalten. Wellness kennt jeder, den Körper pflegen. Innehalten soll die Seele pflegen helfen, aber anders als bei Bädern und Massagen muss die Seele vorbereitet werden, um offen zu werden für Pflege. Ich verstehe daher das Wegfahren in dieses schöne Tagungshaus in Südtirol, das bewusste Ausschalten des Alltags für ein paar Tage als ein inneres Leermachen von all den Themen, die uns oft so beschäftigen, belegen, belasten. Und ich merke, wie lange ich für dieses Leermachen brauche, bis ich wirklich nicht mehr voller Unruhe an Zuhause denke: den ganzen ersten Tag mit seinen Meditationen, Schweigezeiten, den Impulsvorträgen der drei Referenten, dem gemeinsamen Essen, Trinken, auch mit der entspannten Geselligkeit und den Gesprächen am Abend.

Wir sind alle mit ganz persönlichen Themen hergekommen, die wir am ersten Abend kurz nennen, jeder wie er oder sie es möchte, die aber an den folgenden Tagen nicht weiter thematisiert werden: Die Onkologin mit dem Freitod eines engen Freundes vor kurzem, die Schauspielerin mit ihrer religiös motivierten Sinnfrage, die Unternehmerin mit ihrer Unruhe, die auch durch Meditieren nicht zu vertreiben ist, der Projektleiter, dem in letzter Zeit viel schief gegangen ist, und der sein Leben neu justieren möchte. Und ich, der ich mein Leben vor zwei Jahren auf neue Beine gestellt habe, seither selbständig arbeite und versuche, meine professionelle Kompetenz mit für mich sinnvollen Zielen zu verknüpfen, was auch klappt, was mich aber auch enorm fordert und einnimmt und mir oft zu wenig Raum lässt für das Wesentliche – aber was ist das?

Am zweiten Tag, nach dem meditativen Gehen, ist die Bühne dann plötzlich frei für die Sinnfragen. Wozu tue ich all das, was ich tue? Wozu mühe und stemme ich mich Tag für Tag in den verschiedensten Zusammenhängen? Es ist erstaunlich, wie klar sich diese Fragen stellen, wie unaufgeregt auch und doch unüberhörbar, wenn der Raum dafür bereitet ist. Dazu tragen vor allem die drei Referenten bei mit ihren sehr unterschiedlichen Herangehensweisen an das Thema: Da ist Anselm Bilgri mit seinen von der benediktinischen Mönchsregel inspirierten Impulsen: das Kloster als Zelle für den Rückzug aus dem äußeren ins innere Leben. Aus dem Labora ins Ora, aus meinem Alltag in meine innere Sphäre und dort hinzuhören auf das, worauf es im Grunde ankommt.

Der Gehorsam als wichtigste Führungsqualität des Abts, der zunächst einmal Hören, Hinhören, Zuhören bedeutet. Gilt das nicht umso mehr für das Führen des eigenen Lebens? Dr. Nikolaus Birkl ergänzt diese Sicht eines früheren Mönchs durch Erkenntnisse der Hirnforschung. Und bei Dr. Georg Reider, dem früheren Franziskaner, wird es dann praktisch: er führt die Gruppe auf spirituelle Wanderungen zu besonderen Kraftorten seiner Heimat Südtirol.

Der etwas antiquierte Begriff der Muße hat im Deutschen ja den negativen Beigeschmack von Müßiggang. Das wird der Muße aber nicht gerecht. Mir wird am zweiten Tag klar, dass im Wandern, im Musizieren, im Gespräch, im Einfach-nur-Dasitzen ein Werkzeug verborgen sein kann, ja, auch im Lachen und den heiteren Abendgesprächen dieser Tage des Innehaltens, um sich den Raum zu verschaffen für das Hören auf die innere Stimme, die das Leben weiterführt, die – ganz im Sinne von Hermann Hesses Stufen-Gedicht – die Tür zum nächsten Raum des Lebens öffnet. Ich habe das Gefühl, dass ich diese Tage des Innehaltens brauche, um dazu überhaupt die Tür zu finden.

Am dritten Tag öffnet sich diese Tür. Mir scheint, dass ein Schlüssel für mich in dem Bild liegen kann, das Nikolaus Birkl beschreibt: ein Esel, der verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, von welchem der beiden Heuhaufen, zwischen denen er sich befindet, er besser fressen soll. Was ihn hindert, wird mir schnell klar: es ist allein sein Denken (sofern wir einem Esel für dieses Bild das Denken unterstellen). Es ist das bewusste Erwägen, Wollen, Anstreben, Umsetzen, Durchsetzen, Voranbringen, das mich manchmal lähmt. Hingegen erfahre ich Entspannung, wenn ich Dinge gut sein lassen, auf mich zukommen, ausprobieren, hinnehmen lassen kann. Ist dieses Annehmen des Lebens, wie es kommt – anstatt dem dauernden Ändernwollen – das, was Orden mit dem ebenso antiquierten Begriff der Demut bezeichnen, über die Anselm Bilgri gesprochen hat?

Ist es die Demut, die in ihrer Gelassenheit letztendlich den Fokus weitet und Räume öffnet, wo man sie nicht vermuten würde? Am letzten Abend fahren wir den Berg hinauf zu einer wunderbaren rustikalen Südtiroler Bauernwirtschaft. So intensiv wir an den Tagen meditiert haben, so laut hört man uns über die Almwiesen lachen an diesem Abend. Unter uns scheint das Leben im Tal innezuhalten in dem Moment. So wie ich. Alles normalerweise so Geschäftige, Umtriebige, mich Umtreibende ist jetzt gerade ganz weit hinter allen Bergen.

Gerd Henghuber