Was Religion wirklich nutzt

Anselm Bilgri meint, dass es nicht so wichtig ist, ob die Jungfrau den Gottessohn wirklich geboren hat, sondern dass man sich meditativ einlässt auf Gotteserfahrung. Das aber erfordert Einübung und Raum.

Weihnachten ist ein guter Anlass, um etwas grundsätzlicher über den Wert und Stellenwert von Religion in unserer und für unsere Gesellschaft nachzudenken. Das Jahr über leeren sich die Kirchen mehr und mehr, zu Weihnachten aber sind sie voll. Das kann nicht nur an sentimentalen Kindheitserinnerungen liegen, meine ich, und auch nicht an der Geschichte, die die Kirche zu Weihnachten verkündet. Denn rational betrachtet, kommt man bei dieser Geschichte, wie bei vielen anderen biblischen Erzählungen, nicht weiter, auch wenn die Kirche genau dies postuliert: der leibhaftige Gottessohn in Menschengestalt, jungfräulich empfangen und geboren – und vom Pfarrer als Puppe in die Christmette getragen. Wer glaubt das denn heute?

Dennoch wirkt die Weihnachtsgeschichte auch in einer so kirchenfernen Zeit wie der unseren auf Menschen. Das muss daran liegen, dass ihre Wahrheit auf einer anderen Ebene liegt, als der des Verstands. Ich meine damit nicht, was man von Kirchenleuten oft hört, dass es halt darauf ankomme zu glauben – anstatt zu zweifeln. Nein, was dem Verstand auch nach langem Nachdenken quer liegt, kann nicht durch naives Glauben hinweggefegt werden. Die Kirche sollte sich daher nicht scheuen, offensiver zu erklären, dass die Jungfrauengeburt ein großes literarisches Bild ist – keinesfalls aber faktische Realität.

„Religion besitzt neben dem bewussten, intellektuellen Erfassen immer auch eine andere Dimension der Erfahrung, und Menschen haben das immer gewusst.“

Ich meine aber etwas anderes, nämlich dass Religion neben dem bewussten, intellektuellen Erfassen immer auch eine andere Dimension der Erfahrung besitzt, und dass Menschen das immer gewusst haben. Denken und analytisches Durchdringen ist die primäre Methode von Wissenschaft. Die Mittel von Religion ist Gebet und Meditation, hier ist sie stark, wohingegen die Kirche mit ihren Dogmen, die faktische Wahrheiten aussprechen wollen, viele Menschen nicht mehr überzeugt.
Ziel dieser Dimension von Religion, die man Spiritualität nennt, ist es, dem Menschen eine hörende, achtsame Haltung einzuüben, die Raum schafft für Selbstwahrnehmung. Nur ein Mensch, der ein waches Gespür für sich selbst hat, wird sich jenseits allen verstandesmäßigen Wissens auch ein weites und aufmerksames Herz bewahren können. Während der Glaube unterschiedliche Ausprägungen erfahren kann (an einen oder an mehrere Gottheiten), scheint die Spiritualität ein allen Religionsformen gemeinsames Kennzeichen, ein Grundbegriff religiösen Lebens zu sein.

„Was heute Spiritualität heißt, wurde in der christlichen Theologie Mystik genannt.“

Auch, wenn diese Bezeichnung relativ neu ist: was heute Spiritualität heißt, wurde in der christlichen Theologie Mystik genannt. Dieses aus dem Griechischen stammende Wort betont mit seinem Adjektiv »mystisch« eher die verborgene, geheimnisvolle Seite der Beziehung zum tiefsten Grund des Daseins. Sie kann nicht mit dem Verstand erkannt, nicht durch Aktion gemacht, sondern nur durch Versenkung erfahren werden. Karl Rahner, einer der großen katholischen Theologen des zwanzigsten Jahrhunderts, hat einmal gesagt, der Fromme von morgen werde ein Mystiker sein, einer, der etwas »erfahren« hat – oder er werde nicht mehr sein.

„Mystik heißt Vorrang der religiösen Erfahrung vor lehrmäßigen Festlegungen.“

Die mystischen Traditionen aller Religionen verbinden zwei Strömungen: die Aufhebung des verstandesmäßigen Nachdenkens über Gott, das den Menschen im Letzten in nicht aufhebbare logische und ethische Schwierigkeiten bringt; und den Vorrang der religiösen Erfahrung vor lehrmäßigen, in Definitionen gepresste Festlegungen. Natürlich waren alle Mystiker auch große Denker, aber sie versuchten in erster Linie das »Erfahrene« in verstehbare Worte zu fassen.
Spiritualität als eine der Säulen der Herzensbildung kann aber wohl nur über den Weg des Einübens innerhalb der Zeichen-, Symbol- und Ritualwelt einer konkreten Religion erreicht werden. Das Christentum hat nach dem zeitgenössischen italienischen Philosophen Gianni Vattimo vor allem zwei Werte in unsere Kultur eingetragen, die kenosis (griechisch: Entäußerung, Erniedrigung) und die caritas (lateinisch: Nächstenliebe).

Die Entäußerung Gottes, wie sie uns in der Geschichte Jesu von Nazareth überliefert ist, kennzeichnet diese revolutionäre Wendung von der Allmacht zur Ohnmacht Gottes, die durch das Kind in der Krippe uns später das Kreuz symbolisiert wird, und als wirkmächtigen Weg für ein gelingendes Leben die Haltung der Liebe und des Altruismus im Zusammenleben der Menschen. Darüber zu meditieren, kann zu einer spirituellen Erfahrung von Weihnachten führen.

Meditieren bedeutet nichts anderes als Nachsinnen. Das braucht Übung und Raum.

Das lateinische Wort meditari bedeutet ursprünglich nachsinnen, studieren und weist auf die antike Praxis des lauten Lesens von Literatur hin. Benedikt von Nursia verpflichtet seine Mönche neben dem gemeinsamen Psalmengebet zur täglichen lectio divina, dem Bedenken und Aneignen frommer Texte durch Auswendiglernen. Mit dem Wort Kontemplation verbindet man heute eher das vom asiatischen Mönchtum beeinflusste Leerwerden von eigenen Gedanken.

Je älter ich werde, desto unwichtiger wird, was ich glaube, umso wichtiger, wie ich glaube.

Die Konjunktur von Meditations- und Selbsterfahrungskursen unserer Tage ist auch ein Anzeichen für ein Bedürfnis des Menschen, Anleitung zu erhalten, um immer wieder einmal aus dem Alltagstrott herauszufinden und die Tiefen des eigenen Herzens zu ergründen.  Darin liegt eben paradoxerweise der tiefste, eigentliche Nutzen bzw. Zweck von Religion: dass sie einen primär zweckfreien Raum zugänglich machen will, der markiert ist mit den Begriffen Vertrauen und Glauben, Innerlichkeit, Erfahrung und Gelassenheit. Mit dem Fortschreiten der religiösen Praxis wird der dogmatische, appellative und rituelle Teil einer Religion immer unwichtiger. Ein Freund von mir formulierte einmal: »Je älter ich werde, umso unwichtiger wird für mich, was ich glaube, umso wichtiger aber, wie ich glaube.« Und Benedikt von Nursia drückt es am Ende des Prologs seiner Regel so aus: »Wer im Glauben fortschreitet, dem wird das Herz weit.«

Ob Menschen nun für diesen Weitungsprozess die Betlehem-Geschichte brauchen, oder lieber über eine leere Wiege meditieren, ist nicht entscheidend, wichtig ist, dass sie sich die Zeit nehmen für ihre ganz persönliche Spiritualität. Und zwar nicht nur am Heiligen Abend, sondern möglichst jeden Tag.

Lesetipp:
Anselm Bilgri, Herzensbildung, Piper-Verlag