… und das macht Sinn!

von Nikolaus Birkl

„Das macht Sinn!“ oder „Das ist unsinnig, sinnlos!“ sind Formulierungen, die wir alltäglich benutzen, ohne über ihren eigentlichen Sinn (!) nachzudenken. Oft setzen wir dabei den Begriff Sinn mit dem Begriff Nutzen gleich, – und dann ist eine nutzlose Zeit auch eine sinnlose Zeit, die mit dieser Bezeichnung noch zusätzlich abgewertet wird.

Eine nähere systemische Betrachtung zu dem Begriff „Sinn“ zeigt, wie sehr wir mit diesen schnellen Zuschreibungen unsere Handlungsmöglichkeiten verkürzen und verkennen:

Unter „Sinn“ werden zunächst unsere Wahrnehmungsmedien Augen, Ohren, Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn verstanden, eben die Sinnesorgane. Sie sind in ihren Wahrnehmungsmöglichkeiten begrenzt, sie filtern für uns aus allem, was „wirklich“ ist, die Teile und Erscheinungen heraus, die wir benötigen, um den für unser Leben notwendigen Ausschnitt der Wirklichkeit zu erkennen. Alles andere findet keinen Weg der Wahrnehmung in uns hinein (was nicht heißt, dass es nicht existiert). Am Rande sei bemerkt, dass Teile der buddhistischen Welt auch den Verstand zu den Sinnen zählen, also auch ihm diese Begrenztheit der Fähigkeiten zuschreiben.

Unter dem Begriff „Sinn“ bzw. „Sinn-Frage“ ist aber auch die tiefere Bedeutung eines Geschehens in und zwischen lebenden Systemen zu verstehen. Es ist die Warum-Frage, mit der wir erkennen wollen, ob und welchen Zweck unser eigenes Empfinden und Handeln sowie das von uns in der Umgebung Beobachtete wohl verfolgen. Einen wertvollen Ansatz bietet hierbei die Systemtheorie mit ihrem „sinnfreien Sinnbegriff“, womit letztlich ein wertfreier Sinnbegriff gemeint ist:

Systemisches Denken geht davon aus, dass Sinn immer dann entsteht, wenn eine aktuelle Situation mit einer möglichen Situation verglichen wird. Sinn entsteht durch die Differenz von Aktualität und Potentialität. Wenn wir eine aktuell gegebene Situation im Hinblick darauf reflektieren, was an ihrer Stelle möglich wäre, erzeugen wir automatisch Sinn.

Davon scharf zu unterscheiden ist die Frage, wie wir diese Differenz dann bewerten: wir können sie als sinnvoll, sinn-neutral oder sinnlos bewerten, womit wir allerdings eher nutzvoll, nutzen-neutral oder nutzlos meinen. Alleine durch den Vergleich des Bestehenden mit dem Möglichen ist aber bereits vor dieser Bewertung Sinn entstanden. Der berühmte Begründer der modernen Systemtheorie, der Soziologe Niklas Luhmann, formuliert:

„Sinn ist laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten.“

Da unser Leben in den Strom der Zeit eingebettet ist, die Gegenwart also immer von einer Zukunft abgelöst wird, die ihrerseits dann wieder Gegenwart ist (usw.), ist immer eine Differenz von „Jetzt“ zu „Dann“ vorhanden, also immer eine Differenz von Aktuellem zu Möglichem, – also ist immer Sinn vorhanden. Daher müssen wir davon ausgehen, dass alles, was wir denken, tun oder nicht tun, Sinn macht, sonst täten wir es nicht!

An dieser Stelle berühren sich nun der wertfreie Sinnbegriff und die nach dem Nutzen fragende Bewertung. Oft erkennen wir nicht, für welche Seite in uns ein bestimmtes Tun Sinn macht und meinen damit „Nutzen“. Wenn wir hierbei in unserem Bewusstsein keinen Nutzen, keinen Sinn finden, heißt das übrigens nicht, dass nicht Seiten von uns, die uns unbewusst sind, uns zu diesem scheinbar sinnlosen Verhalten bringen. Für diese unbewussten Seiten mag es sehr wohl Sinn machen.

So muss eine nutzlose Zeit keineswegs eine sinnlose Zeit sein. Sind wir vornehmlich erwerbs-, handlungs- und optimierungsorientiert, ist eine Zeit des Nichtstuns nutzlos. Für die uns unbewusste innere Seite, die sich nach Durchatmen, Ausruhen, nach Muße sehnt, ist diese Zeit jedoch äußerst sinn- und nutzvoll. Sinnvoll, weil die Möglichkeit des Nichtstuns als Alternative zum aktuellen Dauernd-etwas-Tun überhaupt erkannt wird, und nutzvoll, weil die unbewusste Sehnsucht nach Entspannung und Ruhe erfüllt wird.

Der beschriebene „sinnfreie Sinnbegriff“ der Systemtheorie hat gerade für die Führung von anderen Menschen große Bedeutung. Führung muss „Sinn“ thematisieren. Führung muss die Konstruktion des aktuell Gegebenen erarbeiten, verstehen, hinterfragen und erweitern. Und Führung muss die Konstruktion des potentiell Möglichen erarbeiten, verstehen, hinterfragen und erweitern.

Luhmann gibt diesem systemischen Sinnbegriff drei Dimensionen: sachlich, sozial und zeitlich. Die sinn-dimensionale Unterscheidung zwischen Aktualität und Potentialität heißt demnach für Führungskräfte:

  • sachlich: Was ist der sachliche Unterschied?
  • sozial: Wer ist, sollte oder wird alles von der Unterscheidung betroffen und an ihr beteiligt sein?
  • zeitlich: Welche Zukünfte sind nahe oder fern möglich? Was bedeutet dies für die Gegenwart und die Vergangenheit?

Doch nicht nur für Führungskräfte, sondern für uns alle erscheint mir der geschilderte wertfreie Blick der Systemik auf den Begriff „Sinn“ sehr befreiend zu sein, denn er gibt uns zunächst die Gewissheit, dass unser Sein und Tun immer Sinn macht (selbst wenn wir ihn nicht erkennen) und dass wir nichts Sinnloses, sondern allenfalls etwas Nutzloses an uns oder anderen beobachten können. Er eröffnet abgekoppelt von der Beobachtung die Suche danach, für wen oder welche Teile eines Systems das Sinn macht und schließt erst daran eine Bewertung an, die nach dem Nutzen der beobachteten Handlung im Hinblick auf den erkannten Sinn fragt.

Eine solche Sichtweise erscheint mir sehr sinn-voll (ich meine: nutz-voll)!