Symposion zum Thema „Ent-Täuschung“ am 17.09.2018

von Nikolaus Birkl

„Gesegnet ist der, der nichts erwartet, er wird nie enttäuscht werden“ (Alexander Pope). Dieses Nichts-Erwarten mag ein vor Enttäuschung sicherer Zustand sein, der für meditative Situationen oder bestimmte Bereiche des Lebens erstrebens- wert ist und dann glücklich macht. Im täglichen Leben jedoch würde er uns überfordern (wir verzichten ja auch nicht dauerhaft auf das Essen, nur damit wir uns nicht den Magen verderben). Soviel zu der Illusion, sich vor Enttäu- schung bewahren zu können.

Wo kommt der Begriff „Enttäuschung“ her, was bedeutet er? Im Lateinischen heißt Enttäuschung spes irrita, die „misslungene Hoffnung“ bzw. „misslungene Erwartung“. Das Englische nennt die Enttäuschung disappointment, also das Gegenteil von appointment und das heißt wörtlich übersetzt „Verabredung“, also eine „Ent-Verabredung“.

Im Deutschen steckt ganz auffällig das Wort „Täuschung“ in dem Begriff und die Vorsilbe „Ent“- bedeutet stets, dass ein bisheriger Zustand beendet wird. Was also im alten Rom noch eine nicht erfüllte, misslungene Erwartung war, wird im Deutschen zur Beendigung einer Täuschung.

Die lateinische und die englische Begrifflichkeit wirken beschreibend und wenig bis gar nicht emotional aufgeladen. Es ist eine Hoffnung oder Erwartung misslungen bzw. eine Verabredung ist aufgehoben, findet nicht statt oder so ähnlich.

Im Deutschen hat der Begriff Täuschung immer etwas mit Schuld zu tun, er klingt moralisch verwerflich, „Man täuscht doch niemanden!“, Täuschung ist etwas zumeist Vorwerfbares, manchmal sogar Strafbares. Da ist im Gegensatz zu den lateinischen und englischen Begriffen plötzlich ganz viel Moral, Emotion, Frustration, Wut, Ärger, vielleicht auch Demotivation etc. im Spiel. Es geht nicht mehr um die relativ ruhige Feststellung, dass etwas nicht so läuft wie erwartet, sondern wir sind, wenn wir enttäuscht werden, (zumindest als Versuchung) nahe an der Opferrolle.

Die Frage ist also: „Wer hat wen getäuscht, dessen Täuschung nun beendet ist, ent-täuscht wird? Wer ist der Böse?

Hierzu einige Überlegungen und Gedanken:

Das menschliche Leben ist eingebettet in den ewigen Fluss der Zeit, in dem wir nicht sicher erkennen können, wie sich die Zukunft gestalten wird. Aber wir müssen uns täglich, stündlich, minütlich in der Gegenwart für die Zukunft organisieren und zu diesem Zweck ununterbrochen Entscheidungen treffen. Dies ist uns nur möglich, wenn wir die ungenauen und oft nur ungefähren Vorstellungen über das, was wir erleben, übernehmen, die uns unser limbisches System in der Regel alle drei Sekunden anbietet. Oder wir denken intensiv über eine Situation nach und bearbeiten, reflektieren das, was wir in uns als real erkannt haben.

Aus dem Ergebnis entwickeln wir immer Vorstellungen und Erwartungen an die Zukunft und stellen uns darauf ein. Wir treffen unsere Entscheidungen auf Grund dieser Vorstellungen und das führt sehr oft zu sinnvollen Ergebnissen. Sie sind heute der Vorstellung gefolgt, dass abends ein Symposion stattfindet, das Ihnen Freude macht. Zumindest der erste Teil der Annahme hat sich ersichtlich erfüllt…

Tatsächlich sind Sie aber nur der Annahme gefolgt, dass dies hier stattfindet, denn mir hätte vorhin etwas zustoßen können, der Raum aus irgendwelchen Gründen nicht benutzbar sein können etc.. Die Zukunft ist letztlich immer unsi- cher und wir wissen ganz viel von dem nicht, was die Zukunft beeinflussen wird! Die Lehman-Pleite liegt nun exakt 10 Jahre zurück; überlegen Sie einmal, wie viele Millionen von Entscheidungen anders getroffen worden wären, wenn die Nachricht der Lehman-Pleite auch nur drei Stunden früher über die Ticker gelaufen wäre!!! Die Zukunft ist und bleibt immer unsicher, doch zurück zu uns:

Sie sind also auf Grund der Annahme einer Wahrscheinlichkeit und nicht in der absoluten Sicherheit hierhergekommen, dass das Symposion heute stattfindet. Wir nennen diese innere Haltung, in der wir Entscheidungen für die Zukunft in der Annahme treffen, dass es so kommen wird, wie es prognostiziert ist, „Vertrauen“.

Wir haben Vertrauen und damit „trauen“ wir uns, in die Zukunft zu gehen. Unser Vertrauen macht für uns die tatsächlich unsichere Zukunft innerlich emo- tional sicherer. Dieses Vertrauen hilft uns zu überleben, denn es macht (für uns) die Welt samt Zukunft weniger komplex und chaotisch. Wir ersetzen für uns die äußere Unsicherheit durch innere Sicherheit.

Und das ist eine Täuschung! Es ist die Täuschung überhaupt. Vertrauen beruht auf einer Täuschung von uns selbst gegenüber uns selbst! Selbst wenn uns dabei ein anderer täuscht und wir „auf ihn hereinfallen“, tun wir dies aus Vertrauen und täuschen uns selbst darüber, dass es sicher ist, von diesem Menschen nicht getäuscht zu werden.

Und dann kommt also alles anders: – der Mensch, dem wir vertraut haben, verhält sich anders als erwartet; – äußere Umstände, auf deren Fortbestand wir vertraut haben, sind plötzlich verändert; – Hoffnungen erfüllen sich nicht etc. etc.. Die Täuschung einer sicheren Erwartung wird weggenommen, ent- täuscht. Und dann sind wir auch „enttäuscht“ und koppeln diese Frustration je nach Situation mit Gefühlen wie Trauer, Wut, Angst, Ohnmacht, Hass, Mitleid usw. usw.. Und ich glaube, wir tun das auch, weil das Täuschen in unserer Kultur eben „böse“ ist. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: dass wir diese Gefühle entwickeln, ist völlig normal und schützt uns oft.

Eine Alternative wäre jedoch eine Haltung der Gelassenheit, die sagt: „Aha, jetzt ist es anders gekommen als erwartet, – wie ist es, – was mache ich jetzt mit dieser Situation?“ Diese gelassene Alternative kann auch nach der ersten Emotionalität eintreten, aber eine Alternative ist sie immer. So gilt: statt davon enttäuscht zu sein, wie – beispielsweise – der andere (angeblich) ist, sollten wir versuchen, nach Abklingen unserer natürlichen Emotionen zu verstehen, was dazu geführt hat, dass er eben so und nicht wie erwartet gehandelt hat. Und dies gilt analog auch für andere Enttäuschungen, es geht immer um unsere Erwartungen.

Der Begründer der modernen Systemtheorie, Niklas Luhmann, sagt: „Vertrauen ist die Bereitschaft das Risiko einzugehen, dem Anderen eine gute Absicht zu unterstellen.“

Also sind wir keine „bösen“ Selbsttäuscher, sondern wir nutzen mit dem Instrument des Vertrauens nur eine absolut überlebensnotwenige Funktion unserer Psyche. Wir können nicht annähernd erkennen, wie komplex die Wirklichkeit „wirklich“ ist, diese Komplexität wäre für uns völlig unbearbeitbar, – wir wären außerstande, auch nur die kleinste Entscheidung zu treffen.

Vertrauen reduziert die Komplexität des Lebens und macht es für uns überhaupt erst lebbar. Wenn wir keinerlei wirkliches Vertrauen entwickeln könnten, wären wir nicht lebensfähig.

Damit ist die Schaffung einer vermeintlich sicheren inneren Zukunft durch die Erzeugung von Vertrauen keine verwerfliche Täuschung von uns an uns, die dann ent-täuscht wird, sondern eine für das Überleben wichtige Funktion in uns hat uns annehmen lassen, dass es anders kommt, als es nun gekommen ist. Was daran ist vorwerfbar? Wie zutreffender sind doch die lateinischen und englischen Begriffe der misslungenen Hoffnung oder Erwartung und der Ent- Verabredung!

Und damit gehört Enttäuschung zu den normalsten Dingen des täglichen Lebens, sei es im Privaten, im Beruflichen oder im Freizeitbereich.

Enttäuschung ist eine Alltagserfahrung und nicht mehr. Wie sagen wir so schön zutreffend:
„Da habe ich mich getäuscht!“

Eben.