von Jorge Luis Borges

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.

Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen.

Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben.
Ich würde mehr riskieren,

würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, mehr Bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.

Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten;
freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.

Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben; nur aus Augenblicken;
vergiss nicht den jetzigen.

Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an
bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen. Und ich würde mehr mit Kindern spielen, wenn ich das Leben noch vor mir hätte.

Aber sehen Sie … ich bin 85 Jahre alt Und weiß, dass ich bald sterben werde.

Innehalten

Die Akademie der Muße hat soeben wieder „Tage des Innehaltens“ in Südtirol abgeschlossen. Der diesjährige Retreat war der zehnte derartige Rückzugszeitraum, den die Akademie der Muße in den Anfangstagen des September anbietet. Daneben gibt es noch Tage des Innehaltens im Mai und Juli eines jeden Jahres und in 2019 sogar auch in der letzten Septemberwoche. Diese Retreats erfreuen sich großer Beliebtheit, – warum eigentlich? Und was bedeutet „Innehalten“?

Das Wort Innehalten ist verwandt mit „Einhalten“ und meint Sich-Einhalt-Gebieten, Unterbrechen, Aussetzen, Verweilen, Haltmachen, Stehenbleiben; das Deutsche Nachrichten-Korpus Wortschatz nennt 24 Synonyme. Es geht um die Unterbrechung des ununterbrochenen Voranstrebens im täglichen Leben, in dem die Zukunft uns wie ein unwiderstehlicher Magnet immer weiterzieht. Was wir jetzt tun, tun wir oft, um damit dann etwas Bestimmtes zu erreichen. Der energetische Motor in uns will zu einem in der Zukunft liegenden Ziel, das bei seinem Erreichen durch ein neues Ziel abgelöst wird. So ist immer die Zukunft (obwohl sie immer unsicher ist und bleibt) das handlungsleitende Motiv: Voran! Voran! Und wir denken immer darüber nach, wie wir optimal dorthin kommen.

Innehalten unterbricht diesen Mechanismus, es hält ihn an und wendet sich der Gegenwart zu. Wir bleiben stehen, treten einen Schritt zurück, atmen durch und können damit „das, was ist“ wahrnehmen. Wir wissen aus der Neurobiologie, dass wir Menschen nicht wahrnehmen und denken gleichzeitig können. Wir nehmen entweder mit unseren Sinnen wahr oder wir denken und reflektieren über das Wahrgenommene, beides gleichzeitig ist uns nicht möglich. „Denken frisst Wahrnehmung“.

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Ein Erfahrungsbericht von Gina Ahrend, 18.07.2018

„Tage des Innehaltens“ – Zeit haben, nach innen und außen zu hören, zu fühlen, die Welt um sich herum wirklich wahrzunehmen, sich selbst zu spüren, ist ein Wunsch vieler Menschen in unserer heutigen hektischen Zeit. Wir fühlen uns überfordert von der Fülle der anstehenden Termine, alles geht schneller, ist oberflächlicher, unverbindlicher, so hat man jedenfalls den Eindruck. Da kommen „Tage des Innehaltens“, zumal inmitten der Weinberge, im Schloss Rechenthal in Südtirol, gerade recht. Anselm Bilgri, Nikolaus Birkl und Georg Reider, die Referenten, bieten in den dreieinhalb Tagen eine stimmige Mischung aus Meditation, Impulsvorträgen*, Naturerlebnis, gutem Essen, ernsten Gesprächen und launigen Abendsymposien. Inspirierende, aufbauende Tage – da sind sich alle in der Schlussrunde einig. Jeder nimmt etwas mit, auch wenn es manchmal mehr Fragen als zu Beginn sind. Aber Fragen sind der Anfang aller Entwicklung.

Mein persönlicher Bericht:

Über den Brenner zu fahren hat für mich seit meiner frühesten Jugend, wenn meine Eltern mit mir im Liegewagen von Wuppertal aus gen Süden fuhren, einen ganz besonderen Zauber. Meist erfüllt von der Vorfreude auf Tage am Meer, auf Sonne und Pinien oder Palmen, je nach Richtung, auf pittoreske Plätze und kulturelle Schätze – kurz, auf mehr Leichtigkeit und Lebensfreude.

Aus dem sonnigen und warmen München kommend empfing uns das Land wo die Zitronen blühen heute allerdings mit prasselnden Regenschauern und gefühlten 12 Grad. Schloss Rechenthal liegt wunderschön, sagt man mir, mit weitem Blick über das Tal bis zum Kalterer See. Im Moment ist davon nicht viel zu sehen – aber morgen ist das bestimmt schon anders!

Heute um 19 Uhr beginnen unsere „Tage des Innehaltens“ mit einer offiziellen Vorstellungsrunde. Ich habe mit dem Innehalten schon mal begonnen – und schaue einfach blöd vor mich hin aus dem Fenster meines Zimmers hinaus ins Graugrün. Meine letzten Tage zuhause waren extrem stressig, und Innehalten kann mir gerade wirklich nicht schaden. Ich bin sehr gespannt und sehe der Gruppe und den Tagen mit Interesse und Freude entgegen. Que sera, sera? What ever will be, will be? …

Wir treffen uns zu Abendessen und Vorstellungsrunde im Kellergeschoss im Wintergarten und inspizieren schon mal den Meditationsraum, ein hohes, ansprechend weiß gestrichenes Kellergewölbe, wo uns Nikolaus Birkl erklärt, wie der kommende Morgen mit der nicht obligatorischen Geh- (Kinhin) und der obligatorischen Morgenmeditation ablaufen wird. Wir suchen uns unsere bevorzugten Sitzgelegenheiten aus, Hocker, Bänkchen oder Kissen. Danach warten schön arrangierte kalte Teller auf uns und der gemütliche Teil kann starten. Und nachdem alle ausreichend gesättigt sind, beginnt die Vorstellungsrunde: Neun Männer und zwei Frauen stellen sich kurz vor.

Die meisten sind von ihrer Arbeit, den täglichen Anforderungen, oder/und auch persönlichen Problemen stark unter Druck, fühlen sich ausgepowert, wollen auftanken, und haben sich daher für diese gemeinsamen Tage des Innehaltens entschieden. Die Mehrzahl sind Wiederholungstäter, kennen – und schätzen – sich von früheren Seminaren der Akademie der Muße. Die andere weibliche Teilnehmerin, außer mir, ist Onkologin und leitende Ärztin in einem Onko-Zentrum, die bei ihrer täglichen Arbeit viel Leid und menschliche Schicksale sieht. Sie war schon mehrmals bei den Tagen des Innehaltens und berichtet sehr eindrücklich, wie ihr diese Zeit immer Kraft schenkt, die Möglichkeit, wieder zu sich zu finden, die Impulse aufzugreifen und das Leben in all seiner Schönheit und Vielfalt zu genießen.

Die Stimmung ist rasch gelöst, eine vertraute Atmosphäre kommt auf – vielleicht auch ein klein wenig dem guten Rotwein geschuldet. Keiner wird bei diesem Seminar verdursten, das wird schnell klar. Nach diesem ersten Abend sind etwaige Bedenken rasch verflogen und die Vorfreude nimmt weiter Fahrt auf. Ich gehe froh ins Bett und stelle mir den Wecker schweren Herzens auf halb sieben, um pünktlich zur Meditation um sieben Uhr zu kommen. Die Geh-Meditation werde ich mir sparen, zumindest am ersten Morgen. Stille und Schweigen kommen mir am frühen Morgen allerdings sehr entgegen.

Wie Nikolaus uns angewiesen hat, kommen wir am Morgen schweigend, ohne uns anzuschauen, in den Meditationsraum, verneigen uns und gehen zu unseren Plätzen. Sobald ein Zeichen ertönt, nehmen wir unsere gewählte Haltung ein, lauschen einem kurzen Text und sitzen dann schweigend, sonst nichts … Ich bin am ersten Morgen überrascht, als der Klang der Schalen wieder ertönt und die 25 Minuten schon verstrichen sind. Wir verlassen immer noch schweigend den Raum, sind angehalten, uns erst beim Treffen im Frühstücksraum wieder freundlich anzuschauen und einen guten Morgen zu wünschen. Ich gehe ein paar Schritte in den Weinberg, genieße die Stille, den Ausblick, den frühen Morgen. Jetzt erst kann ich wahrnehmen, wo ich hier überhaupt gelandet bin. Heute regnet es immerhin nicht mehr, aber die Wolkenfelder hängen noch tief in den Bergen ringsum. Trotz des grauen Himmels ein beeindruckendes Panorama. Jetzt wartet ein schönes Frühstück, wir dürfen wieder sprechen, uns in die Augen schauen, einen guten Tag wünschen!

Am nächsten Morgen:

Gestern (Donnerstag) war ein sehr schöner Tag. Nach der Morgenmeditation schmeckte das Frühstück, und wir trafen uns um neun Uhr zu zwei Vorträgen, bei denen auch Gedanken eingebracht werden können: Zuerst sprach Nikolaus Birkl über „Systemisches Erkennen“. Jeder Mensch nimmt die Welt anders wahr, daher gibt es keine objektive Wahrheit. Aber, wenn es keine Wahrheit gibt, gibt es doch Unwahrheit! Im Anschluss ging es bei Anselm Bilgri darum, „Warum sind Werte wichtig?“. Bei so viel interessantem Input ging der Morgen vorbei wie im Flug. Interessante Impulse, viel Stoff zum Nachdenken, wichtige Anregungen gerade für die Führung kleiner und großer Teams.

Vor dem reichlichen Mittagessen ging es erst wieder in den Meditationsraum – dieses Mal kam mir die Zeit allerdings deutlich länger vor. Zu viel Grübelei und trübe Gedanken … Nach der Ruhepause versammelten wir uns im Schlosshof zu einem herrlichen Spaziergang. Ein kurzer Anstieg zu einem schönen Höhenweg und Georg Reider verteilte Aufgabenzettel an unsere Gruppe. Wir sollten während des schweigenden Gehens nach innen und nach außen spüren, wahrnehmen, entdecken. Die Sonne schien jetzt, der Waldboden duftete nach dem Regen, ich genoss das Gehen – allerdings nicht ganz so langsam wie angesagt und wartete am Schluss auf einer Holzliege am Wegrand auf den Rest der Gruppe, genoss die Sonne – eine kleine Eidechse huschte über meine Hand. Den Hinweg hatten wir alleine und schweigend verbracht, auf dem Rückweg bildeten sich Grüppchen, je nach Gusto. Ich lief mit Markus und Olli – wir diskutierten den Zustand der Welt – und kamen gerade noch pünktlich zur Abendmeditation. Macht Nikolaus es jedes Mal ein bisschen länger? Ich habe den Verdacht … Das Abendessen war reichlich, danach entspannte Runde im Wintergarten, der Rotwein floss, die Witze kamen gut an. Wir nahmen den Begriff Symposion (gemeinsames, geselliges Trinken) ernst!

Schon ist Freitag:

Der heutige Freitag lief am Morgen wieder gleich ab mit Morgenmeditation – Kinhin habe ich leider in den Tagen nicht einmal geschafft … – und interessanten Impulsvorträgen. Nikolaus erklärte weiter die Grundprinzipien systemischen Denkens und Handelns: „Das Denkprinzip ‚Soziales System‘“. Menschen bringen sich nicht als Ganzes in ein soziales System ein, sondern als jeweilige Person. Wer bin ich und wenn ja, wie viele – „Kommunikationssysteme erschaffen Personen.“ (Torsten Groth). Anselm Bilgri sprach im Anschluss über „Werte im Wandel“ – ein Thema, das im Moment in der Gesellschaft, in den Parteien und Medien heiß diskutiert wird.

Am Nachmittag brachte uns ein Bus zu den wunderschön angelegten Gärten von Schloss Trauttmansdorff, und es erwartete uns eine 90-minütige Führung durch diese grüne, blühende Vielfalt. Ich freute mich riesig auf diesen Nachmittag, da ich diese Anlage von einem Besuch im letzten Jahr bereits kenne und weiß, welche Schönheiten uns erwarten. Und wir hatten Glück mit dem Wetter: Es gab zwar dicke, schwarze Wolken, aber genau über uns schien die Sonne – wie es sich gehört. Wir genossen die herrlichen Blumen- und Pflanzenwelten, die uns der Führer Klaus anschaulich (auf seine etwas eigene Art und Weise) erklärte. Zum Abschluss stärkten wir uns mit einer flüssigen Erfrischung im Gartencafé am Teich kurz vor dem Ausgang, bevor wir zurück zum wartenden Bus liefen. Die Abendmeditation fiel aus, die kalten Teller schmeckten wunderbar. Große Erheiterung, teils schallendes Gelächter belohnte die Witze-Erzähler beim Wein. Morgen ist ein neuer Tag!

Am Samstag:

Heute Nacht habe ich zum ersten Mal besser geschlafen. Wahrscheinlich habe ich nicht mehr die unterbewusste Angst, den Wecker zu überhören und werde kurz vor dem Weckton um halb sieben von selber wach. Ein herrlicher Morgen – endlich strahlt die Sonne, und das direkt in mein Zimmer. Ich freue mich sehr auf den Tag. Die Meditation versuche ich mit Atemübungen für meinen niedrigen Blutdruck besser zu gestalten. Danach marschiere ich stracks die Straße hinter dem Schloss hinauf, um mal den Blick von oberhalb des Schlosses zu genießen und gleichzeitig bereits ein wenig herrliche, wärmende Sonne zu tanken.

Tage danach:

Diese letzten Zeilen schreibe ich schon wieder vom Büroschreibtisch aus, da keine Zeit mehr war, die Erlebnisse noch während der restlichen anderthalb Tage aufzuzeichnen.

Der letzte Vortrag von Nikolaus Birkl hatte die Überschrift „Entscheiden in sozialen Systemen“. Dahinter verbargen sich höchst spannende Gedanken zu ZDF (Zahlen – Daten – Fakten), die als hart und objektiv gelten (sind sie das wirklich?) und den unterschiedlichen Formen von Entscheidungsprämissen und deren mehr oder weniger schnellen Veränderbarkeit. Anselm Bilgri fragte „Werte in der Digitalisierung – Wo bleibt der Mensch“.

Nach einem guten Mittagessen und einer Ruhepause brachten uns zwei Kleinbusse zu einem wunderschönen Höhenweg, der erst lange relativ geradeaus durch den Wald führt und zum Schluss steil bergab zurück nach Schloss Rechenthal. Georg Reider war mit von der Partie als unser Führer. Ähnlich wie am Donnerstagnachmittag gab er uns wieder Aufgaben mit auf den Weg, schweigend die Eindrücke zu genießen und nach außen und innen zu spüren. Nach einer guten Stunde trafen wir uns bei einer Hütte auf einer Lichtung und bekamen die Anweisung, uns gut im umliegenden Wald zu verteilen, „unseren“ Baum zu suchen und uns u. a. mit der Frage zu beschäftigen, was uns jeweils Standfestigkeit gibt und wo wir Halt finden. Nach etwa zwanzig Minuten fanden wir uns wieder bei der Hütte ein und Georg überraschte uns mit Brot und Wein. Wir verweilten in einer trauten Runde, bevor wir uns auf den Rückweg machten, wieder uns verbal austauschend, in kleinen Grüppchen oder einzeln, je nach Lust und Verfassung.

Der Abschlussabend versprach ein kulinarisches Highlight – Teilnehmer, die schon öfter dabei waren, wussten, was uns erwartete. Ein festlich gedeckter Tisch im nahegelegenen Plattenhof. Das viele Besteck und die Gläser verrieten im Vorfeld, dass es üppig zur Sache gehen würde. Nach Spargel, köstlicher Suppe und Hauptgang schaffte ich bedauerlicherweise den toll aussehenden, bunt arrangierten Nachtischteller nicht mehr. Ein paar von uns überlegten noch zu Fuß zu gehen, um das wunderbare Essen zu verarbeiten, aber dann nahmen wir doch alle den Kleinbus, der uns sicher durch die Nacht fahren und die Lichter im Tal genießen lassen würde.

Der Sonntagmorgen begann mit der nun vertrauten Meditationsrunde – schade, dass es die letzte ist. Zwei Plätze blieben leer, denn die beiden waren bereits auf der Autobahn, da sie gleich wieder Termine hatten. Nach dem Frühstück versammelten wir uns ein letztes Mal im Meditationsraum – jetzt allerdings im Halbkreis auf Stühlen vor unseren drei Referenten. Es wurden besinnliche Texte gelesen und in einer abschließenden Feedbackrunde äußerte sich jeder, was ihm die gemeinsamen Tage gebracht und bedeutet haben. Die Meinung ist einhellig – es war spannend und erholsam, eine prima Gruppe und einfühlsame, inspirierende Referenten, ein stimmiges Programm. Es hat einfach rundum gepasst – und die meisten wollen wiederkommen. Ich wäre auch jederzeit gerne wieder dabei. Man verabschiedet sich ein wenig wehmütig, aber erfüllt von den Erlebnissen, die Taschen sind gepackt, die Autos stehen bereit.

* Ausführliche Unterlagen erhält jeder Teilnehmer, um den gehörten Stoff für sich wiederholen zu können

Ein Erfahrungsbericht von Philipp Hauner, Journalist, 18.09.2019 

Tage des Innehaltens vom 08.05. – 12.05.2019

„Retreat für Führungskräfte“ – die Unterzeile zu den „Tagen des Innehaltens“ stimmt mich nachdenklich: Ist das was für mich? Passe ich in dieses Setting? Oder werde ich mich eher in die Rolle des distanzierten, neutralen Beobachters begeben? Ich bin schließlich keine Führungskraft, sondern Journalist. Und in dieser Funktion wurde ich auch von Nikolaus Birkl zum Retreat eingeladen.

Nikolaus und ich wir hatten uns kennengelernt, als ich ihn für ein Porträt im Münchner Merkur interviewte – und waren uns auf Anhieb sympathisch. Jetzt soll ich die Tage des Innehaltens begleiten und später redaktionell aufbereiten. Sicher, ich habe im Soziologie-Studium schon mal von der Systemtheorie gehört und bin auch schon mit Zen-Meditation in Berührung gekommen. Beide werden wichtige Elemente des Gesamtprogramms der Tage des Innehaltens sein. Aber die Frage bleibt: Werde ich mich unter all den Managern wie ein Fremdkörper fühlen?

Szenenwechsel: Ich sitze mit Nikolaus und Gina Ahrend in einer Raststätte am Brenner, wir bestellen. Kaffee und Tee, während draußen Nikolaus’ Tesla am Supercharger Strom tankt. Noch zirka 20 Minuten – dann geht es weiter Richtung Südtirol. Die neue Form der Mobilität – zwingt sie uns, wenn auch natürlich ungewollt, zum langsamer werden? In Zeiten der Effizienzsteigerung und Beschleunigung wirkt zumindest der E-Ladevorgang wie ein Anachronismus. Von vielen belächelt oder kritisiert, passt er doch irgendwie wunderbar zu einem Seminar des Innehaltens, denke ich. Wenngleich ich zugeben muss, dass ich es beeindruckend finde, wie schnell das E-Auto von 0 auf 100 kommt – da fühlt man sich fast wie in einem Flieger auf der Startbahn…

Die Autogespräche kreisen dann um die spanische Esskultur, Umweltschutz, das Wiener Wohnmodell – und ehe man sich’s versieht, durchfahren wir schon den sonnengelben Torbogen von Schloss Rechtenthal und biegen in den Innenhof ein. „Der Zielort wurde erreicht“ – Tramin in Südtirol. Wir beziehen unsere Zimmer und treffen uns mit Anselm Bilgri im fensterlosen Souterrain, das mit seinem weißen Gewölbe an die stille Atmosphäre einer Kapelle erinnert. Hier unten werden wir die nächsten Tage gemeinsam meditieren, jetzt richten wir die quadratischen Sitzmatten für alle Teilnehmer aus. Und ich falte mir eine Decke auf meiner Matte so hoch zusammen, dass ich im Kniesitz darauf Platz nehmen kann – meine bewährte Haltung während der Meditation.

Im angrenzenden Wintergarten (ja das geht, denn das Schloss steht mitten in einem steilen Weinberg!) versammeln sich immer mehr Teilnehmer – bis die Vorstellungsrunde beginnen kann. Wir sind ein kleiner Kreis aus sechs Männern und einer Frau (danke Gina, dass du bisschen Diversity in die Gruppe gebracht hast!). Es wird deutlich, dass viele Teilnehmer Führungspositionen im klassischen Mittelstand innehaben und auch zum wiederholten Male hier sind – einige sogar schon zum fünften oder sechsten Mal. Und noch eins wird mir recht schnell klar: Das hier ist keine zugeknöpfte Anzugträger-Truppe, hier geht es legère und vertrauensvoll zu – die ersten Lacher sorgen bereits für lockere, heitere Stimmung. Meine Sorge, mitten unter vielleicht unnahbare Dax-Vorstände zu geraten, war also völlig unbegründet. Und so beschließe ich mich für die kommenden drei Tage zu öffnen und nicht die Rolle des distanzierten Beobachters einzunehmen.

Es geht weiter mit der ersten gemeinsamen Meditation im japanischen Zen-Stil. Nikolaus, der eingangs darauf hingewiesen hat, dass sich alle Meditierenden weltweit duzen, erklärt die wichtigsten Grundprinzipien: versuchen still zu sitzen, Fokus auf den eigenen Atem, Augen ganz leicht offen, Blickrichtung zur Wand – und, sehr wichtig, entspannt bleiben, auch wenn sich vielleicht mal unangenehme Gedanken aufdrängen. Im Gegensatz zu tibetischen Formen der Meditation ist das japanische Pendant schlicht und puristisch – es kommt ohne aufwändige Visualisationen aus. Und außerdem: Was soll dabei schon schiefgehen, wenn im Kreis der Übenden ein langgedienter Mönch dabei ist? Anselm Bilgri war 20 Jahre lang Cellerar im Kloster Andechs, bis er 2004 ausgeschieden ist und sich aufs Bücher schreiben und Vorträge halten konzentriert hat.

Innere Gelassenheit, mehr Resilienz-Vermögen und sogar ein stärkeres Immunsystem: Dass regelmäßige Meditation viele Vorteile bringt, ist längst wissenschaftlicher Konsens – nun geht es darum, selbst die Früchte des stillen Sitzens zu ernten. Ein oft verwendetes Bild vergleicht die Wirkung von Meditation mit dem stehen gelassenen Glas voll schmutzigen Wassers: Wie mit der Zeit die Schmutzpartikel zu Boden sinken und das Wasser immer klarer wird, kommt auch während der Meditation ein aufgewühlter Geist zur Ruhe – Resultat: man sieht wieder klar. Die erste Meditation in diesem Seminar fällt mir nicht schwer: Ich genieße die Ruhe und spüre wieder einmal, wie viel Power das gemeinsame Sitzen hat. Auch wenn man still und beim ZEN mit Gesicht zur Wand sitzt, kann ich die Anwesenheit der anderen Teilnehmer wahrnehmen – und das gibt Kraft, vor allem beim Einstieg ins meditieren.

Den Abend lassen wir in geselliger Runde mit Wein und Schüttelbrot ausklingen. Ein köstliches Vitello Tonnato und Melone mit Parma-Schinken erinnern mich wieder daran, dass wir in Italien sind – eine Tatsache, die man angesichts des zumeist deutschsprachigen (und sehr freundlichen) Personals in Schloss Rechtenthal leicht vergessen könnte. Und schließlich: Tramin ist einer der letzten Vorposten im deutschsprachigen Teil Südtirols – hier kommt alpines Lebensgefühl mit Dolce Vita in Kontakt, wie ich in den nächsten Tagen oft genug feststellen werde.

Der folgende Morgen, sieben Uhr: Auf dem Meditationskissen sind meine Glieder schwer, ich habe große Mühe, nicht wieder einzuschlafen. Aber gut, auch das gehört dazu, sage ich mir und irgendwann kann ich die Ruhe genießen, auch ohne in richtig tiefes Gewahrsein zu kommen. Hin und wieder hatte ich bei vorangehenden Retreats schon Momente voller Energie und Gegenwärtigkeit erlebt, in denen ich mich auch nach dem Klingen der Glocke kaum von der Matte lösen wollte. Jetzt erklingt sie nach einer halben Stunde und ich freue mich auf das Frühstück. Heute und in den kommenden zwei Tagen ist das Tagesprogramm wie folgt strukturiert: Morgens eine halbe Stunde Meditation, danach Schweigen bis zum Frühstück um acht Uhr – anschließend zwei Impulsvorträge von Nikolaus und Anselm, danach nochmal Sitzen. An das Lunch schließt ein abwechslungsreiches Nachmittagsprogramm an, bevor es Abendessen gibt.

Heute geht’s im Anschluss an Lunch und eine kleine Siesta nach Partschins, wo ein beeindruckender Wasserfall fast hundert Meter in die Tiefe donnert. Ich atme die frische, ionisierte Luft ein und wandere mit zwei Teilnehmern ein Stück an den entspringenden Bächen entlang Richtung Ort Partschins. Durst? Was spricht gegen einen Schluck reinstes Alpenwasser? Ich tauche meinen Kopf in eine Gumpe und trinke.

Eine gute Entscheidung, denn unten im Dorf angekommen – läuft mir gleich wieder das Wasser im Mund zusammen. Wir bekommen eine Führung durch eine kleine Privatbrennerei – Christine Schönweger betreibt in einer umgebauten Waschküche die Hofbrennerei Gaudenz. In einem holzbefeuerten Kupferkessel stellt sie feinen Apfelbrand Golden Delicious, Grappa Vernatsch oder auch Marillenschnaps her, und verwendet dafür nur sonnengereifte, ausgesuchte Südtiroler Früchte – sowie: bestes Wasser aus den Gebirgsquellen von Partschins. Schließlich dürfen wir Schönwegers Schnapschatz auch verköstigen mit vielen Ahs und Ohs! Und verstehen, bzw. erschmecken, wieso die einzige Schnapsbrennerin Norditaliens preisgekrönt ist.

Mit der gleichen herzlichen Freundlichkeit empfängt uns tags drauf Martin Kiem zum Waldbaden. Wie Schönweger ist auch Kiem erst nach einem Umweg zu seinem heutigen Beruf (oder vielleicht zu seiner Berufung?) gekommen. Während Christine Schönweger zunächst ein Modestudium in Mailand absolviert hatte, sich dann in einen Südtiroler Bauern verliebt und prompt das Brennen angefangen hat, war Martin Kiem in seinem ersten Berufsleben als Coach für große Unternehmen in Sydney tätig. Auch er ist jetzt wieder in seine Südtiroler Heimat zurückgekehrt und bringt nun als ausgebildeter Natur-Therapie-Guide Gruppen das in Europa relativ neue Waldbaden näher. In seinem Metier gilt Kiem als einer der renommiertesten Experten in ganz Europa.

Bevor wir tief mit allen Sinnen in den Wald eintauchen, erläutert Martin Kiem worauf es beim Waldbaden ankommt. Ich merke mir: 1. Langsam! 2. Der Weg ist das Ziel! und 3. Beobachten und fühlen statt denken, denn „Denken frisst die Wahrnehmung“. Schön, dass diese drei Merkmale des Waldbadens sich schon mal gegenseitig unterstützen – wobei: Wer langsam geht, hat eigentlich noch mehr Zeit, um nachzudenken? Na, ich werde es gleich sehen. Wir sind im Wald angekommen, atmen die würzige, frische Waldluft ein und starten mit der ersten Übung. Martin möchte, dass wir zu 100 Prozent im gegenwärtigen Moment ankommen. Wir schließen die Augen und nehmen wahr: Was können wir spüren, riechen, fühlen? Ich kann mich komplett auf diesen Moment einlassen, spüre einen kühlen Windhauch an der Nasenspitze, höre Vögel zwitschern, etwas raschelt im Laub – und fühle mich nach dieser Übung wunderbar entspannt – und lebendig.

Wir sammeln die Eindrücke, ein Teilnehmer konnte sogar sechs verschiedene Vogelstimmen identifizieren, ein anderer nahm ganz intensiv den Waldboden wahr. Im Übrigen, so Martin, sei eine Abwandlung dieser Übung, die 5-4-3-2-1-Methode, auch ein perfekter Anker um wieder im Jetzt anzukommen: 5 Dinge, die man sehen kann, 4 Dinge, die man hört, 3 Dinge die man fühlt, 2 Dinge, die man riecht und 1 Ding, das man schmeckt – wer all das benennen kann, wird wieder in die Gegenwart geführt. Anschließend sollen wir den Wald so erkunden, als wäre er völlig neues Terrain für uns, als wären wir von einem entfernten Planeten gerade erst auf der Erde gelandet. Was können wir beobachten? Behutsam und fast in Zeitlupe strömen wir in alle Richtungen aus. Ich entdecke wundervoll gemusterte Blätter, die auf der Rückseite violett leuchten, andere Teilnehmer erfühlen, dass unterschiedliche Baumrinden ein ganz leicht verschiedenes Temperaturlevel haben – und einer bemerkt sogar voller Begeisterung: „Bäume haben ja Füße!“

Den Tag im Wald beschließen wir mit einer Fichtennadeltee-Zeremonie, die herrlich nach Sauna-Aufguss duftet. Ich habe schon viele Waldspaziergänge unternommen, aber so intensiv wie an diesem Tag habe ich den Wald noch nie wahrgenommen: und wie wunderbar diese Kathedrale der Natur ist! Am nächsten Tag vertiefen wir die Praxis des Waldbadens, jeder meditiert für sich an seinem ausgesuchten Lieblingsplatz – ich setze mich an den Fuß einer mächtigen Tanne – bis nach drei, vier Minuten ein Zapfen herunterfällt, dann ein nächster – ein Eichhörnchen macht sich da wohl im Baumwipfel zu schaffen…Wir schwärmen für die letzte Übung wieder aus: Jeder sucht einen Gegenstand, der ihn irgendwie berührt, sei es ein besonderer Stein oder Ast, eine Feder ein Blatt. Dann tragen wir unsere Fundstücke zusammen und kreieren ein Wald-Mandala – indem einer nach dem anderen seinen Gegenstand auf dem Waldboden drapiert. Mein spontaner Gedanke: Reichtum entsteht dann, wenn man genau hinsieht – und wenn man sich auf Gegenseitigkeit einlässt.

Im Rückblick waren die drei Tage in Südtirol so voll mit wertvollem Input – und wirkten doch alles andere als vollgepackt. Wie Nikolaus und Anselm dieses Kunststück gelungen ist? Ich denke es lag teilweise an dem gelungenen Rhythmus aus Meditation, sehr spannenden Impuls-Vorträgen über Systemtheorie und z.B. Freud und Heidegger, den nachmittäglichen Aktivitäten – und dem geselligen Austausch am Abend.

Ich war schon bei einigen Seminaren, aber diese Ausgewogenheit habe ich selten erlebt: viel Tiefgang aber auch viel Humor, viel Neues aber auch ausreichend Zeit für die Verarbeitung.

Meine anfängliche Befürchtung, in ein staubtrockenes Management-Seminar hineinzugeraten, hat sich schnell in Luft aufgelöst – hinter meiner Rolle als Journalist habe ich mich nicht verstecken müssen. Was ich mitnehme? Zum einen die Erkenntnis, dass Achtsamkeit durchaus mit Genuss konform gehen kann (ich erinnere mich an die Spargelcreme-Suppe mit Gewürztraminer im Plattenhof am letzten Abend) – und nicht zwangsläufig Askese bedeuten muss. Dass Langsamkeit gegen Betriebsblindheit hilft. Und dass Führen nicht eine Anleitung zum richtigen Handeln bedeutet, sondern viel mehr viele (und die richtigen) Fragen stellen heißt. Dass Veränderung und nicht Gleichbleiben die Regel ist – zwei von vielen Aha-Momenten, die mir die Nikolaus’ Erläuterungen aus der Systemtheorie bescherten.

Wir alle sind während dieser Tage vom Gaspedal heruntergetreten – umso erstaunlicher, wie schnell die Zeit in Rechtenthal verflogen ist. Hier waren alle einhellig der gleichen Meinung: Schade, dass es so fix wieder rum ist! Jetzt ist es an jedem einzelnen selbst, die gewonnen Einsichten und Praktiken behutsam in den eigenen Alltag zu überführen. Und wer weiß, was wir uns dann hoffentlich im nächsten Jahr alles zu berichten haben…

„Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.“ Ein Zitat, das Alexander von Humboldt zugeschrieben wird, dessen 250. Geburtstag in diesem September gefeiert wird. Aber egal, ob es wirklich von dem großen Entdecker und Naturforscher stammt oder nicht, es regt zum Nachdenken an. Natürlich können nicht alle Menschen die hintersten Winkel der Welt bereisen, um ihr Weltbild zu erweitern, wie das Alexander von Humboldt getan hat. Aber es gibt ja auch die Reisen im Geiste, das Wissen der Welt ist für viele Menschen so leicht zugänglich, wie noch niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Es steht den meisten Menschen offen, sich umfassend aus unterschiedlichsten Quellen zu informieren, fremde Welten und Kulturen (theoretisch) zu erforschen, andere Meinungen zu hören, Standpunkte zumindest nachzuvollziehen. So kann man den Satz auch so verstehen, dass es gefährlich ist, mit Scheuklappen herumzulaufen, nur sein räumlich beschränktes, bekanntes Umfeld wahrzunehmen, sich dem Fremden nicht auszusetzen – und sei es auch nur im Geiste.

Der Freiheitsbegriff lässt sich vielfältig diskutieren, ist einem stetigen Wandel unterworfen und umfasst psychologische, soziale, kulturelle, religiöse, politische und rechtliche Dimensionen. Wenn man Freiheit als „frei von äußeren Zwängen“ versteht, definiert man den Begriff im Verhältnis eines Individuums zu anderen Menschen. Und „frei von inneren Zwängen“ würde bedeuten, dass der Mensch frei entscheiden kann, was heutzutage Neurowissenschaftler bezweifeln. Unstrittig ist, dass Freiheit in unserer Demokratie ein hohes Gut ist. Der Artikel 2 des Grundgesetzes garantiert das Recht auf „ …die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Wo fängt die persönliche Freiheit an, wo hört sie auf? Nur gemeinsam können wir frei sein. Freiheit heißt auch, die Wahl zu haben, daraus resultieren wiederum Entscheidungszwänge – und somit mitunter Stress. Das bedeutet, Verantwortung für sein Handeln übernehmen, Konsequenzen für sich und für andere abwägen und tragen. Populisten triumphieren, weil sie einfache Lösungen und klare Feindbilder anbieten. Das „befreit“ den Einzelnen von der Freiheit der Wahlmöglichkeiten. Freiheit will gelernt sein …