Nachhaltigkeit im Umgang mit der Seele
Interview mit dem Mediziner Dr. med. Jochen von Wahlert über ausgebrannte Manager und den Sinn von Muße
Dr. med. Jochen von Wahlert ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er betrieb in München eine private Praxis für Psychotherapeutische Medizin und war lange Jahre ärztlicher Direktor der bekannten Psychosomatischen Klinik Bad Grönenbach. Im April dieses Jahres eröffnete er die neue Psychosomatische Privatklinik am Schloßberg in Bad Grönenbach. Sie richtet sich vor allem an Top-Manager aus Unternehmen und internationalen Organisationen. Am 10. Mai diskutieren Anselm Bilgri und Dr. Nikolaus Birkl mit Dr. von Wahlert im Münchner Café Luitpold im Rahmen der neuen Veranstaltungsreihe „Diskurse für eine gelassene Lebensführung.“
Herr Dr. von Wahlert, wie finden Sie als Mediziner den Begriff Burnout?
Eigentlich gar nicht schlecht. Burnout ist natürlich kein Fachbegriff, keine medizinische Diagnose, aber er hat die Gesellschaft in den letzten Jahren für das Thema psychische Erkrankung sensibilisiert. Gerade weil er nicht nach Depression klingt, nach Angststörung, Zwangsverhalten, Sucht, Ess-Störungen – was sich ja alles dahinter verbergen kann. Auch das breite Spektrum der somatoformen Störungen im Zusammenhang mit Stress und Überlastung in der Arbeitswelt hat eine enorme Verbreitung: Wir gehen davon aus, dass in den Wartezimmern der Allgemeinärzte jeder Dritte mit körperlichen Beschwerden auf Grund einer psychischen Erkrankung kommt. Somatoforme Störungen wurden bisher vollkommen unterschätzt und selten rechtzeitig erkannt und behandelt. Unter dem Begriff „Burnout“ trauen sich Patienten überhaupt, Hilfe anzunehmen und zu uns zu kommen, manche sogar bevor sie psychisch völlig zusammenbrechen.
Wie entsteht diese Überlastung?
Vereinfacht gesagt durch chronische Überforderung, Dauerstress. Wenn Menschen immer in Hetze sind und unter Druck stehen, dann hat das für den Körper eine Reihe negativer Auswirkungen: der Organismus bleibt im Daueranspannungsmodus und kann sich nicht mehr ordentlich regenerieren, der hohe Cortisol-Spiegel wirkt negativ u. a. auf das Immunsystem, das Nervensystem ist überreizt und auf der zellulären Ebene können Reparaturmechanismen nicht mehr richtig arbeiten. Auch die Funktion der Organe ist oft gestört. Gerade Magen-Darm-Probleme kommen häufig vor und sind ein Riesenthema in diesem Zusammenhang. Viele Patienten haben körperliche Störungen, und nur wenige bringen sie zunächst in Zusammenhang mit ihrer Überlastung.
Wie behandeln Sie solche Patienten?
In der Therapie helfen wir zunächst, dass Menschen die „außer sich“ sind, also im Ungleichgewicht, wieder zu sich kommen und anfangen, die eigene Situation zu realisieren. Oft braucht es ein paar Tage, um „runter zu kommen“ und Abstand vom belastenden Alltag zu gewinnen. Zunächst arbeiten wir also daran, die Wahrnehmung für sich selbst zu schulen, für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, aber auch für die Umgebung, die Natur, für Qualität der Beziehungen. Wie geht es mir, wie ist die Lage, bin ich auf Kurs, finden die wirklich wesentlichen Dinge in meinem Leben auch statt? Alles Fragen, die für eine Wiederherstellung der Lebensgeister notwendig wind, wenn wir die Erkrankung als Signal deuten, dass wir etwas verändern müssen. Neben der oft intensiven Therapie lehren wir Entspannungstechniken und wir lassen ihnen Zeit, spazieren zu gehen und über sich nachzudenken. In einem zweiten Schritt sprechen wir mit den Patienten über ihre Situation und versuchen herauszufinden, welche Belastungen hinter den Symptomen stecken, welche Konflikte oder Ängste. Wieso sich eine bestimmte Symptomatik, Reaktionsweisen oder emotionale Verhaltensmuster entwickelt haben und wie sie positiv verändert werden können.
Also klassische Psychotherapie?
Ja, und wir nennen das auch so. Es geht darum, die Lebenskraft und das Selbstvertrauen wieder herzustellen. Um eine verbesserte Selbstfürsorge und um Herzensbildung für die wohl wichtigste Fähigkeit für unser Dasein, das Mitgefühl. In der Therapie geht es nicht immer nur um die unbewältigte Kindheit sondern oft ganz konkret um eine Lösung von aktuellen Krisen. Wir arbeiten, wenn immer möglich, mit einem pragmatischen, positiven Ansatz und schauen: wo hat jemand seine Stärken, wo können wir seine Widerstandskraft, seine Resilienz fördern. Wir arbeiten ressourcenorientiert, d. h. wir unterstützen die angelegten Fähigkeiten. Manche Menschen scheuen Psychotherapie und vertrauen lieber auf mehr oder weniger esoterische Angebote mit ihren Heilsversprechen. Wir merken bei unseren Patienten aber immer wieder, dass ein klarer, rationaler Zugang schnell akzeptiert wird, gerade von ergebnisorientierten Managern, die es gewöhnt sind, ein Problem zu erkennen und zu lösen. Für die Arbeit mit der Seele müssen wir allerdings oft noch einen tieferen Zugang finden, der auch die Bereiche anspricht, zu denen wir rein kognitiv nur schwer einen Zugang finden. Dazu ergänzen wir moderne körperorientierte und kunsttherapeutische Verfahren, die in unserem Konzept eine wichtige Rolle spielen. Mit der Möglichkeit von vertieften Erfahrungen fördern wir die Bildung von neuen neuronalen Netzwerken und unterstützen Menschen darin, die Sichtweise auf ihre Situation und die Haltung, mit der sie sich und die Beziehungen um sich herum steuern, von Altlasten zu befreien.
Kommen die Patienten auf eigene Veranlassung oder werden sie von ihren Unternehmen geschickt?
Psychotherapie ist überhaupt nur möglich, wenn sie aus eigenem Antrieb heraus erfolgt. Meist führt der eigene Leidensdruck dazu, sich Hilfe zu suchen. Manchmal sind es aber auch die Ehepartner oder ein Chef der einem eine Behandlung nahelegt. Es ist enorm wichtig, dass Unternehmen sensibel für das Thema Burnout und Überlastung werden und ihren Mitarbeitern auch deutlich signalisieren: Wir unterstützen Euch, wenn die psychische Belastung zu groß wird. Unsere Klinik kooperiert inzwischen mit einer ganzen Reihe von Unternehmen, die das Problem erkannt haben und uns für Kriseninterventionen bei ihren Mitarbeitern nutzen. Gerade bei stark beanspruchten Managern ist das Risiko, dass der akute Stress zum Dauerzustand wird, sehr groß.
Sie sprechen vor allem Top-Manager an?
Nicht nur, aber viele Unternehmen haben heute das Dilemma, dass sie Top-Leute brauchen, die sich kritischen, anstrengenden und auch aufreibenden Jobs stellen. Die Freude an großen Herausforderungen haben und bereit sind, Stress auf sich zu nehmen. Stress an sich ist ja nicht negativ sondern hilft uns ja, die eigenen, oft zu engen Grenzen auszubauen. Aber auch diese meist sehr belastbaren Menschen kommen bei den heutigen Anforderungen in einen Risikobereich, der für viele eine andauernde extreme Anspannung bedeutet. Unternehmen haben nichts von ausgebrannten Spitzenkräften, um im Bild zu bleiben. Wir schulen unsere Patienten deshalb darin, sich besser wahrzunehmen, zu erkennen, wo ihre Grenzen liegen und welche Zeichen ihnen ihr Körper sendet, wenn es genug ist. Ziel ist natürlich, dass sie sich wieder mit voller Schaffenskraft nützlich machen können.
Ist das nicht eine Daueraufgabe, weit über den Aufenthalt in Ihrer Klinik hinaus?
Ja sicher, Menschen müssen Ausgleich und Entspannung in ihren Alltag integrieren, so wie das Zähneputzen. Deshalb ist für mich das Konzept der Akademie der Muße so überzeugend, weil es eine Lehre über die eigene Erfahrung anbietet. Es ist gar nicht so wichtig, wie man den Ausgleich schafft bzw. was man tut, ob malen oder spazieren gehen, sich mit seinen Freunden treffen oder Musik spielen. Unsere Zivilisation hat sehr viele Formen von Muße entwickelt, die uns vor allem deswegen guttun, weil sie dazu dienen, von An- auf Entspannung umzuschalten.
Und das ist es dann schon?
Nein, aber mit gekonntem Müßiggang tun wir auf jeden Fall etwas für die Prävention, allerdings muss man es regelmäßig machen. Loslassen, innerlich einen Schritt zurück treten und Abschalten muss genauso eingeübt werden, wie man ein Musikinstrument lernt: indem man es immer wieder in die Hand nimmt. Irgendwann kommen die Melodien ganz automatisch. Und genauso wichtig ist, dass man das, was man sich als Muße gewählt hat, nicht mit einem Leistungsanspruch betreibt und dadurch wieder in eine neue Getriebenheit gleitet. Denn dann hört der Stress ja nie auf.
Interview: Gerd Henghuber