Impuls: Beweglichkeit und Festhalten

Es ist keine große Erkenntnis: viele Menschen haben in ihrer Arbeit immer weniger Bewegung und suchen in der Freizeit einen Ausgleich dafür. Manche Menschen scheinen aber nicht nur zu wenig Bewegung, sondern auch zu wenig inneren Halt zu haben. Dabei sind Bewegung und Halt zwei Grundbedürfnisse des Menschen, die sich in der Sehnsucht sowohl nach Veränderung als auch nach Tradition ausdrücken. Wir möchten uns alle entwickeln, neue Möglichkeiten entdecken und über unsere Grenzen hinauswachsen; gleichzeitig aber brauchen wir einen Rahmen und Gleichbleibendes, die uns Sicherheit und Orientierung geben. Um diesen Grundbedürfnissen in unserer Zeit nachzukommen, müssen wir neue Fähigkeiten entwickeln: wir müssen uns an immer schnellere Veränderungen anpassen, ständig neue Produkte entwickeln und uns auf immer neue Bedingungen einstellen. Dieser Anspruch müsste uns eigentlich zur Bewegung anregen. Aber immer mehr Menschen sitzen immer länger hinter den Bildschirmen und befassen sich mit einer konstruierten Welt, an der sie mit jedem Tastendruck und Mausklick weiterbauen. Dadurch erzeugen wir einen beweglichen Geist in einem an Stuhl, Schreibtisch und Bildschirm gefesselten Körper.

Das ist ein interessanter Widerspruch: unser Geist erzeugt immer komplexere Welten und Verbindungen, während unser Körper sich kaum bewegt. Und gleichzeitig leiden immer mehr Menschen unter dem Defizit innerer Halt- und Heimatlosigkeit. Diese komplexe Erfahrung führt dazu, dass immer mehr Menschen in der Freizeit nicht nur Bewegung suchen, sondern eine Tätigkeit, die Ausgleich zur bewegungslosen Arbeit schafft und gleichzeitig die Sehnsucht nach innerer Verortung bedient: sie pilgern und suchen an spirituellen Orten Halt und Heimat. Das ist ein modernes Paradox: Im Festsitzen vor den Computern realisieren wir Beweglichkeit, Flexibilität und neue Connections und auf dem Weg als Pilger oder Wanderer suchen wir, mehr oder weniger bewusst Sinn, Heimat und Orientierung. In der äußeren Bewegung drücken viele Menschen ihre Suche nach dem „Mehr als alles“ (D. Sölle) aus.

Ohne Zweifel gibt es Wege und Orte, die dieser Sehnsucht entgegenkommen. Oft gewinnt man den Eindruck, dass Wege und Orte durch die Nutzung im Laufe der Zeit immer mehr zu dem werden, wozu sie gedacht und ursprünglich errichtet wurden. Deshalb werden Orte zu heiligen Orten – oder spirituellen Orten, wie wir heute gerne sagen – indem Menschen sie aufsuchen und pflegen. In allen Kulturräumen und Religionen gibt es solche besonderen Orte – Wallfahrtsorte, Kirchen, alte Kultstätten, Naturoasen – die von den Menschen aufgesucht werden, weil sie dort das Gefühl der inneren Beheimatung erleben, weil sie die Erfahrung des Getragen-Seins spüren. Das ganze Jahr, in besonderer Weise aber in der sich nun anbahnenden Herbstzeit, die fast automatisch nach innen führt und uns irgendwie mit dem Ende und den Grenzen des Lebens konfrontiert, suchen wir im Gehen oder Pilgern zu heiligen Orten die Erfahrung der Tiefe, der Unvergänglichkeit oder Ewigkeit unseres Lebens.

Viel innere Freude bei Ihren Herbstspaziergängen wünscht Ihnen
Ihr Dr. Georg Reider