Fehler machen

Von Dr. Nikolaus Birkl

Das war ein Fehler!

Das ist ein Satz, den ich hoffentlich nicht sage, wenn ich in einiger Zeit diesen Impuls lese. Aber was ist ein Fehler? Als Fehler wird ein Zustand oder auch ein Vorgang bezeichnet, der von dem abweicht, was zuvor als Erwartung, Erfordernis oder Annahme festgelegt ist. Ein Fehler ist die Nichterfüllung einer Anforderung. Diese Definition entstammt sinngemäß der DIN EN ISO 9000:2005 Qualitätsmanagement – Grundlagen und Begriffe.

Eine solche abstrakte Definition des Begriffs Fehler lässt zunächst nicht erahnen, welche emotionalen Zustände, Enttäuschungen, zwischenmenschlichen Dramen, aber auch kühlen Reaktionen und Folgehandlungen sich im tatsächlichen Leben an diesen Begriff andocken. Es kann sich dabei um zahllose Fehlerformen handeln, um technische Fehler, um menschliche Fehler, um erwartete Fehler, um unerwartete Fehler, um absichtliche Fehler und um unabsichtliche Fehler etc. etc.. Und plötzlich sind wir bei Schuld, Schuldzuweisungen, Reue und je nach weltanschaulicher Aufladung vielleicht auch bei Sünde.Mit den technischen Fehlern trivialer Systeme (z. B. Maschinen) will ich mich in diesem Zusammenhang nicht befassen, sie müssen beim Auftreten von Fehlern eben umgebaut oder repariert werden, manchmal auch umkonstruiert, aber sie folgen einem klaren Wenn-Dann-Schema, das dazu dient, durch Optimierung der Maschine zunehmend sicherer im Fehlervermeiden zu werden.

Ganz anders ist das aber mit nicht-trivialen Systemen, die wir lebende Systeme nennen und zu denen wir Menschen zählen. Sie sind in ganz besonderem Maß der Unsicherheit des Seins ausgeliefert, sie schwimmen im Strom der Zeit. Alles wird und vergeht, die Veränderung ist ein allgegenwärtiger Normalzustand.

Menschen haben Wissen über die Vergangenheit nur mit einer gewissen Unschärfe des Gedächtnisses und sie können die Gegenwart genau wahrnehmen, wie sie die Gegenwart im Augenblick erleben, aber über die Zukunft, über das, was auf sie zukommt, wissen sie nichts, jedenfalls nichts Sicheres. Manche „Zukünfte“[1] sind wahrscheinlicher, manche unwahrscheinlicher, manche sind angenehmer, manche unangenehmer. Aber unsicher sind sie sicher alle! Wir alle leben, was den Fortgang unseres Lebens, ja der heutigen Nacht, des morgigen Tages, des nächsten Jahres usw. angeht, in Unsicherheit und: Unsicherheit ist nicht rezeptfähig.[2]

Jetzt sollen und müssen wir aber während unseres gesamten Lebens ununterbrochen Entscheidungen treffen, die auf die Zukunft bezogen sind, also auf einen Zustand, den wir uns nur vorstellen und imaginieren, den wir allenfalls mit Wahrscheinlichkeiten versehen, aber dessen Eintritt wir ganz gewiss nicht sicher machen können.

Und dann haben wir gemäß unserer eigenen Prognose in unserer eigenen Wirklichkeit entschieden und sind darauf angewiesen, dass sich die Zukunft so entwickelt, wie wir angenommen haben! Dann haben wir nämlich richtig entschieden, ansonsten hätten wir einen Fehler gemacht.

Das klingt einfach, ist in dieser Form aber unsinnig. Denn wir wussten im Entscheidungszeitpunkt beispielsweise nichts darüber, was andernorts entschieden wurde und für die Folgen unserer Entscheidung erheblich, uns aber nicht bekannt war, nicht bekannt sein konnte. Wie viele Entscheidungen auf der Welt wären anders getroffen worden, wenn die Lehman-Pleite auch nur zwei Stunden früher über die Presse-Ticker gelaufen wäre? Es gibt immer Informationen, die uns unbewusst oder unbekannt sind, die im Fall ihrer Bewusst- oder Bekanntheit zu einer veränderten Entscheidung hätten führen können.

Wenn aber für uns Menschen und für andere lebende Systeme wie Unternehmen und Organisationen Entscheidungen in Unsicherheit über die zukünftigen Entwicklungen getroffen werden müssen, hat dies gewaltige Auswirkungen auf den Fehlerbegriff und vor allem auf die Fehlerkultur:

Je nachdem, wie wir das Wort Fehler verwenden, bekommt es ganz unterschiedliche, aber jedenfalls in herkömmlichen Strukturen nur ganz selten freundliche Botschaften und Aussagen. Vom Erstaunen bis zur Schuldzuweisung, von der Reue bis zum Vorwurf, vom Verschieben in die Vergangenheit bis zum guten Vorsatz für die Zukunft, von der Selbst-Bezogenheit bis zur Fremdbezogenheit: alles ist möglich und es hängt von unserem inneren Bild der Wirklichkeit und der Betonung des Wortes ab, was wir meinen.

Doch gehen wir nicht allzu leichtfertig mit dem Wort Fehler um?

Ist es wirklich ein Fehler, wenn eine (zukunftsbezogene) Entscheidung die Entwicklung der Zukunft anders einschätzt als diese dann kommt? Nein, solange wir für die Entscheidung und die vorherige Alternativenbildung alle Ressourcen genutzt haben, die uns zur Verfügung standen. Wenn wir das, was wir wussten und erkannten, bei der Entscheidung eingesetzt haben, ist eine von uns nicht vorhergesehene Entwicklung kein Fehler, sondern etwas Unerwartetes. Es kann damit nicht für Schuldzuweisungen (auch nicht an uns selbst) dienen, sondern sollte eine Initialzündung für Neugier sein: Welche Faktoren haben dazu geführt, dass es anders kam? Wie geht es weiter? Welche Folgen prognostiziere ich, wird diese Entwicklung haben (übrigens wieder eine mögliche Fehlerursache!)? Solche Fragen sind die einzig sinnvollen, nicht aber: Wer ist schuld?!?

Bringt es wirklich eine Lösung, dies dem Entscheider (und sei man es selbst) zum Vorwurf zu machen? Nein, denn wenn wir erkennen, dass der Entscheider oder wir selbst etwas übersehen haben, was er bzw. wir hätten sehen können, so lautet die einzig entscheidende Fragerichtung: Wie verbessere ich für die Zukunft die Wahrscheinlichkeit, auch solche Faktoren zu erkennen und zu bewerten?

Ist Reue ein sinnvoller Zustand? Meistens nein! Ich höre gerade im Coaching oft den reuevollen Satz Das hätte ich anders machen sollen, das war ein Fehler. Ich frage dann stets: Sind Sie an dem betreffenden Morgen aufgestanden und haben zu sich gesagt: Heute mache ich einen richtigen Fehler! Natürlich nicht. Haben Sie damals Ihre Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen auf Grund der Erkenntnisse getroffen, die Sie damals hatten? Natürlich ja. Konnten Sie das, was Sie heute wissen, damals wissen Nein. Groß ist oft das Erstaunen darüber, wie unfreundlich, ja gnadenlos wir mit uns umgehen, wenn wir etwas nicht bedacht haben, was wir gar nicht wissen konnten.

Schuldzuweisungen an sich und andere bringen eine Unmenge an Leid in die Welt, ohne dass dies sinnvoll wäre. Das Vergangene kann nicht mehr verändert werden, aber das Leiden daran verstellt allzu oft den Blick auf das, was zum Weiterkommen, Vorankommen notwendig ist. Das Leiden blockiert auch die neugierige Analyse, was im Gegensatz zur ursprünglich vermuteten Entwicklung tatsächlich passiert ist.

Verabschieden wir uns von dem Wort Fehler mit wenigen Ausnahmen, auf die ich gleich zu sprechen komme! Nennen wir all das, was wir so gerne als Fehler bezeichnen, zunächst einmal wertfrei Unerwartetes! Lassen wir uns von einer nur scheinbare Sicherheit erzeugenden Weltsicht, die dualistisch in so oder so, richtig oder falsch, in gut oder böse, wahr oder unwahr unterscheidet!

Wenden wir uns stattdessen einer Weltsicht zu, die alles was geschieht zunächst als lebendigen Veränderungsprozess in dem unendlichen und ewigen Fluss der Zeit versteht! Dann sind Veränderungen und damit eine grundsätzliche Unsicherheit der Normalzustand unseres Lebens und wir lernen, sicher im Umgang mit Unsicherheit zu werden. Diese Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit besteht in einer neugierigen Wachheit gegenüber dem, was geschieht. Das Auftauchen eines Fehlers, von Unerwartetem, ist dann ein Hinweis auf eine abweichende Entwicklung, der uns schnell reagieren lässt, je früher desto besser. Aus dem zu bekämpfenden Fehler wird ein hinweisgebender Freund:

Fail early and learn quickly!
Der frühe Fehler ist Dein Freund!

Gibt es dann in der Welt systemischen Denkens keine Fehler? Oh doch! Einer der größten Fehler ist: Nicht zu entscheiden, wenn entschieden werden muss. Denn dann passieren die Dinge einfach ohne Steuerung. Es geht dabei aber nicht um richtig und falsch, sondern um Entscheiden oder Nicht-Entscheiden. Erinnern Sie sich an den Auftritt von Angela Merkel und Peer Steinbrück nach der Lehman-Pleite: „Die Spareinlagen der Deutschen sind sicher!“ Sie gaben eine Garantieerklärung ab, die grob rechtswidrig war, denn sie waren hierfür weder zuständig noch berechtigt, kein Parlament war eingebunden, sogar die Notstandsgesetze – und wir hatten keinen Notstand – hätten diese Aussage nicht ermöglicht. Und doch wäre es ein Fehler gewesen, wenn die beiden sich nicht so überzeugend präsentiert hätten, denn das Bankensystem war in akuter Gefahr und man mag sich nicht ausdenken, was passiert wäre, wenn ganz Deutschland sein Geld abgehoben hätte. So blieb es weitgehend ruhig.

Von einem Fehler spreche ich auch, wenn ich mich über etwas von mir Erkanntes hinwegsetze, um mir einen kurzfristigen Vorteil zu verschaffen (irgendwie fallen mir da Begriffe wie Klimaschutz, Kohle und Verbrennungsmotor ein). Einen Fehler begehe ich auch, wenn ich mich unsensibel mache, indem es mir gleich ist, welche Folgen meine Entscheidungen haben. Auch wenn ich vorsätzlich von verbindlichen Regeln abweiche, kann das ein Fehler sein, und an dieser Stelle tauchen in meinem Sinnkontext erstmals die Begriffe Schuld und Reue auf. Und doch spüre ich sofort ein Fragezeichen: Wie war das mit Angela Merkel, Peer Steinbrück und den Sparguthaben?

Auch gibt es natürlich im strafrechtlichen Kontext die Begriffe von Fehler und Schuld, um die sich unzählige philosophische und anthropologische Fragen ranken, aber dort steht die Schuld im Vordergrund und nicht der Fehler im Sinne des alltäglichen Fehler-Verständnisses. Diese Überlegungen sollen einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.

Für unseren alltäglichen Fehlerbegriff fasse ich zusammen:

Ich plädiere für eine Umorientierung des Fehlerbegriffs hin zur Akzeptanz der unerwarteten Veränderung, zu einer Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit. Ich plädiere für eine Umorientierung von der Schuldzuweisung und der Reue hin zu einer Neugier bezüglich dessen, was anders geschieht, sich anders entwickelt als angenommen. Wer ständig neue Erkenntnisse und Veränderungen als normal empfindet, kann in den meisten Fällen den Begriff des Fehlers durch den Begriff des Unerwarteten ersetzen. Die damit einhergehende neue innere Sichtweise wird dem jeweiligen Menschen und seiner Umgebung sehr viel Leid ersparen.

Es ist sicher ein Fehler, den Begriff Fehler so unreflektiert zu verwenden, wie das leider ständig geschieht.

 

[1] man verzeihe mir den Begriff

[2] ein Satz von Klaus Eidenschink auf der Tagung „Ist die Hierarchie am Ende?“ mit Prof. Rudi Wimmer am 11.11.2017