Wie sieht eigentlich Muße aus, Herr Müller?

Jürgen Müller ist Profi-Fotograf mit zahlreichen prominenten Kunden. Für ein gutes Bild macht er oft stundenlang die Augen auf – ohne die Kamera überhaupt zur Hand zu nehmen. Achtsam hinzusehen, genau zu betrachten, ist für ihn die wichtigste Eigenschaft eines guten Fotografen. Muße im Grunde. Seine Technik wird Jürgen Müller ab nächstem Jahr als Seminar im Rahmen der Akademie der Muße anbieten. Doch auch Muße-Menschen wie er müssen sich ab und an disziplinieren, der Muße nachzugehen. Vor einer Stunde hatten wir ihn zur verabredeten Zeit angerufen. Er war ziemlich genervt, weil er eine Stunde im Stau gestanden hatte und brauchte erst einmal was zum Essen.

Hallo Herr Müller, passt es jetzt besser?

Ja, das war jetzt im Grunde eine Muße-Übung: erst mal in Ruhe hinsetzen, essen, runterkommen, entspannen nach dem Stress und Ärger, der Verkehr war schlimm heute.

Was ist für Sie Muße?

Im Grunde genau solche Inseln, die den Kopf wieder leer machen. Muße ist, wenn ich frei meinen Gedanken nachgehen kann. Ich war gerade eine Woche in Sizilien zum Fotografieren, aber ohne Auftrag. Ich bin einfach rumgelaufen und habe fotografiert, was mir gefiel: leere Plätze, Fischerboote, egal, Hauptsache schöne Fotos.

Sieht man Ihre Muße dann auf diesen Fotos? Oder anders gefragt: wie sieht Muße aus?

Wenn Bilder aufgeräumt sind: Landschaften sind Muße, einzelne Gegenstände, alle Bilder, in denen nicht viel los ist und das Auge sich ausruhen kann oder langsam im Bild herumwandern. Wenn der Betrachter seinen Gedanken nachgehen kann. Solche Bilder machen Raum frei. Das Gegenteil davon sind volle, schnelle, aggressive, unruhige Bilder, Verkehrssituationen etwa. Ich meine, dass aufgeräumte Bilder den Betrachter auch innerlich aufräumen.

Sie waren dieses Jahr bei den Tagen des Innehaltens dabei, wie fanden Sie sie?

Sehr gut, und zwar nicht nur wegen des Innehaltens. Das habe ich auch beim Fotografieren. Ich mochte auch sehr die Impulse von Anselm Bilgri und Nikolaus Birkl und die Diskussionen, die mich auf einige neue Gedanken brachten. Es ist wichtig, dass wir uns immer wieder der tödlichen Wechselwirkung aus Routine und Hektik entziehen, um Neues zuzulassen.

Zu diesem Zweck werden Sie ab nächstem Jahr Fotografie-Kurse im Rahmen der Akademie der Muße anbieten, worum geht es da?

Nicht um die Technik, insofern wollen wir die Seminare voraussichtlich „Fotografieren und Innehalten“ nennen, aber das steht noch nicht endgültig fest. Es geht darum, achtsam und entspannt umherzuwandern und Bilder wahrzunehmen und zu betrachten. Wenn ich keine Ruhe finde, das zu tun, dann geht Fotografieren nicht. Insofern ist Fotografieren ein echtes Muße-Tool.

Erklären Sie das bitte.

Ich habe so etwas schon einmal mit Managern in Istanbul gemacht, in der Hagia Sophie. Die sind rumgelaufen und haben ohne Ende geknipst. Ich dagegen saß ziemlich lange an einem Platz und habe umhergeblickt. Und dann genau ein Bild gemacht. Am Abend bewunderten alle mein Foto, obwohl sie unzählige Male an mir vorbeigelaufen waren. Sie hätten auch mal schauen können, was ich mir anschaute, sich neben mich setzen und erst einmal zur Ruhe kommen. Um etwas fotografieren zu können, muss man es erst einmal sehen. Und um Dinge im Leben zu erkennen, gilt das Gleiche.

Interview: Gerd Henghuber