Dr. Nikolaus Birkl über Wahrheit

Wenn wir etwas als „wahr“ bezeichnen, meinen wir zumeist, dass es mit der „Wirklichkeit“ oder einem Sachverhalt übereinstimmt. Im Gegenteil sprechen wir von „falsch“ oder gar von Lüge. Dabei denken wir regelmäßig nicht darüber nach, was wir mit „Wirklichkeit“ eigentlich meinen.

Diese lange dominierende, auf Aristoteles zurückgehende und im Mittelalter von Thomas von Aquin beherrschend vertretene Korrespondenztheorie steht auch heute noch allenthalben im Vordergrund der Betrachtung: „Veritas est adaequatio intellectus et rei“ – Wahrheit ist die Übereinstimmung von erkennendem Verstand und Sache.

Die Philosophen und Lehrer aller Zeiten haben sich intensiv mit der Problematik der „Wahrheit“ befasst, neben Aristoteles und Thomas von Aquin weiterhin Immanuel Kant bis zu Schlegel, Hegel, Nietzsche, Marx, Wittgenstein, Habermas und die Konstruktivisten. Die Wikipedia-Seite über „Wahrheit“ ist sehr ausführlich und gut gestaltet, ich möchte Sie gerne dorthin verweisen, denn ich will ein paar Schlaglichter auf zwei sehr wesentliche in der Philosophie und Erkenntnistheorie vertretene Auffassungen werfen, nämlich auf den aristotelischen Dualismus und den systemischen Konstruktivismus, wobei ich – wie Sie merken werden – selbst ein überzeugter Anhänger der konstruktivistischen Weltsicht bin.

Der aristotelisch/cartesianische Dualismus:

Aristoteles formulierte ca. 350 v. Chr. das Grundprinzip der sog. Korrespondenz-Theorie:

„Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr. Wer also ein Sein oder Nicht-Sein prädiziert, muss Wahres oder Falsches aussprechen.“ (Aristoteles, Metaphysik, 1011b)

Mit diesem Kernsatz aristotelischer Metaphysik kam der Dualismus in die Welt der Philosophie, denn danach gibt es nur die Wahl zwischen Sein und Nicht-Sein, zwischen wahr und falsch, zwischen richtig und unrichtig, zwischen gut und böse etc. etc.. „Tertium non datur“ – etwas Drittes gibt es nicht. In diesem Dualismus lebt die westliche Hemisphäre – wie ich meine unseligerweise – auch heute noch ganz maßgeblich, nachdem der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes mit seinem cartesianischen Weltmodell im 17. Jahrhundert dem Dualismus nochmals ordentlich Bekanntheit verschafft hatte.

In der Welt des Dualismus sind die Dinge eben wie sie sind: Alles bleibt, wie es ist, es sei denn, irgendjemand oder irgendetwas sorgt dafür, dass es sich verändert. Weil diese Welt die Dinge, die Objekte eher statisch sieht, stehen sie fest und werden als „wahr“ bezeichnet. Es wird das, was jemand sagt, mit dem verglichen, was – und hier beginnt schon die Problematik – „wirklich“ existent ist. Stimmt beides überein, erhält die Aussage den Stempel „wahr“. Und als wahr werden dann auch Erinnerungen z. B. eines Zeugen bezeichnet, dessen Erinnerung sich mit Behauptungen eines anderen (Kläger, Beklagter, Staatsanwalt etc.) decken, obwohl wir von der modernen Neurobiologie wissen, dass wir durch den Vorgang des Erinnerns immer auch den Inhalt des Erinnerten leicht verändern müssen. Anders können wir uns schon rein physiologisch gar nicht erinnern.

Schon hier ist zu fragen: „Wie wahr ist „wahr“ denn eigentlich?“

Ich sagte soeben, dass wir „unseligerweise“ in dieser dualistischen Welt leben, denn in einer Welt des Entweder/Oder gibt es kein Sowohl/Als auch, kein Weder/Noch, kein Vielleicht, kein Weiß-ich-nicht. Etwas ist bewiesen oder es fällt mangels Beweis ins Nichts. Dabei kannten die Griechen schon vor Aristoteles ganzheitliche, holistische Sichtweisen auf die Welt, die nicht danach fragten, ob etwas existiert oder nicht, sondern die sich dafür interessierten, welche Rolle das, was existiert, im Fluss der Zeit, in diesem ewigen Veränderungsprozess des Werdens und Vergehens spielt. Ich nenne beispielhaft die Flusslehre des Heraklit („Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen!“) und die ganzheitlichen Ansätze Platons, der einer der Lehrer des Aristoteles war.

Längst zeigt uns heute die Quantenmechanik, dass die Sichtweise des Entweder/Oder irreal ist, ja, – dass uns die dualistische Sichtweise grob in die Irre führt. Durch sie kann Wahrheit nicht geschaffen werden. Ob in der Quantenmechanik eine Welle oder ein Teilchen angetroffen wird, hängt vom Beobachter, der Beobachtung ab. In der modernen Physik und Philosophie ist „Wahrheit“ ein eher „wackeliger“ und zu hinterfragender Begriff.

Ich will Ihnen einen anderen Gedanken näherbringen, der Sie hoffentlich nicht allzu sehr erschreckt: Diese Bewertungen als „wahr“ oder „unwahr“ setzen voraus, dass wir das, worüber wir sprechen, zunächst einmal erkennen konnten und für uns bewertet haben. Die moderne Neurobiologie lehrt uns hierüber jedoch, dass uns Menschen ein objektives Erkennen tatsächlich nicht möglich ist:

Wir haben unsere Sinne und unseren Verstand. Die Sinne lassen nur eine bestimmte Bandbreite an Informationen in uns hinein, also bestimmte Wellenlängen von Schallwellen, bestimmte Wellenlängen von Lichtwellen. Alles Länger- oder Kurzwelligere hören bzw. sehen wir nicht, es bleibt „draußen“. Unser Tastsinn ist von der Nervendichte an den tastenden Organen begrenzt, der Geschmackssinn entsprechend etc. etc..

Wir bekommen von allem, was „draußen“ ist, also nur einen Bruchteil in unser Körper- und Sinnessystem hineingeliefert, um es zu verarbeiten. Was wir verarbeiten, ist nicht „die Wirklichkeit“, sondern nur ein kleiner Ausschnitt aus der Wirklichkeit, – gerade so viel, wie wir zum Leben brauchen. Unser Verstand hat dann über die Naturwissenschaften weitere Bereiche gefunden, aus denen er auf Existenzen schließt, die wir nicht wahrnehmen können: Radiowellen, Funk, Röntgen usw.. Das erweitert dann den Horizont ein wenig.

Wenn die Informationen in uns über die Sehnerven, Hörnerven usw. eingedrungen sind, liegen sie als elektrischer Impuls im Gehirn vor, das aus diesen elektrischen Impulsen Bilder, Töne usw. zusammensetzt, – blitzschnell und für unsere Bedürfnisse fast perfekt. Dieser Vorgang dauert ca. 1/10 Sekunde. Was wir also erkennen, ist schon vergangen, wir sitzen in einem „Kopfkino“! Die Welt draußen ist vermutlich farblos und still, jede Wahrnehmung ist von uns konstruiert. Und die Bewertung dessen, was wir erkennen, daher erst recht! Das Sprichwort: „Schönheit entsteht im Auge des Betrachters“ ist (wenn man Auge, Sehnerv und Gehirn zusammenfasst) neurobiologisch tatsächlich zutreffend. Wir merken diesen komplexen Vorgang – Gott sei Dank! – nicht, aber dass der Erkennensvorgang so abläuft, ist heute in der Neurobiologie und Erkenntnistheorie unumstritten.

Wenn wir also dann etwas konstruiert = erkannt haben, ordnen wir das jeweils Erkannte auf der Basis unserer Erfahrungen bestimmten inneren Formen zu und so entstehen sehr subjektive, sich oft ähnelnde, aber doch immer unterschiedliche Wirklichkeiten in uns. Hier gibt es archaisch in uns abgespeicherte Formen und Signale ebenso wie erworbene Formen aus Erfahrungen, Erlebtem und Gelebtem bis hin zu Geträumtem. Häufig ist diese schnelle Zuordnung (Paul Watzlawik nennt dies „Punktieren“) richtig und für den „Alltag“ ausreichend, häufig sind es aber auch Schnellwertungen, die uns – gerade wenn es um die Beziehung zu einem Menschen geht – in die Irre führen (Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken). Daher sollte, wenn wir einen Menschen oder eine neue Situation mit Menschen kennenlernen und uns eine erste Meinung bilden, unsere oberste Maxime sein:

„… Und es könnte auch ganz anders sein!“

Und so hat jeder von uns seine ganz eigene Wirklichkeit und das ist gut so. Wenn wir dann diese unsere Wirklichkeit als wahr bezeichnen, ist das völlig in Ordnung, so lange wir damit „unsere Wahrheit“ und nicht eine objektive Wahrheit meinen. Und solange wir nicht die naturgemäß andere Wirklichkeit eines anderen Menschen als unwahr und falsch bezeichnen!

Natürlich gibt es auch in dieser konstruktivistischen Sichtweise die Lüge: nämlich dann, wenn jemand entgegen seiner erkannten Wirklichkeit (zumeist vorsätzlich) Dinge anders behauptet als er sie erkannt hat. Und natürlich ist die konstruktivistisch verstandene Wahrheit nicht etwas Beliebiges, sondern etwas sehr Konkretes: nämlich genau das, was der jeweilige Mensch als Wahrheitsträger für sich als wahr erkannt hat.

Lassen Sie mich nun zusammenfassen und mich dabei mit den fremden und berühmten Federn von Paul Watzlawik schmücken:

Die Idee, die eigene Wirklichkeit sei „objektiv wirklich“, ist eine „gefährliche Wahnidee“ (Paul Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit?)

Und der Philosoph Heinz von Förster sagt in seinen „Gesprächen für Skeptiker“ bezogen auf Objektivität:

„Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“

Was für uns „wahr“ ist, stimmt also mit unserer jeweiligen inneren Wirklichkeit überein, – die „objektive Wahrheit“ ist im Diesseits eine Illusion – oder ein Fingerzeig auf Transzendenz, also Göttliches. Dann soll sie zurecht dem Glauben vorbehalten bleiben.

Dr. Nikolaus Birkl